Doctor Sleep - Страница 110


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Das war zweifellos der Grund gewesen. Aber man musste kein Ebenezer Scrooge sein, um zu wissen, dass es nicht nur böse Geister gab, sondern auch gute. Auf dem Weg zum Parkplatz blieb Dan stehen, drehte sich um und warf einen Blick auf das Dach der Welt. Er war nicht besonders überrascht, auf der Plattform einen Mann am zerbrochenen Geländer stehen zu sehen. Der Mann hob die Hand, durch die der Gipfel des Pawnee Mountain sichtbar war, und hauchte einen fliegenden Kuss, an den Dan sich aus seiner Kindheit erinnerte. Er erinnerte sich gut daran. Es war ihr spezieller Gruß am Ende des Tages gewesen.

Gute Nacht, Doc. Schlaf gut. Träum von ’nem Drachen, und erzähl mir morgen früh davon.

Dan wusste, dass er weinen würde, aber noch hielt er es zurück. Es war nicht die richtige Zeit dafür. Er hob die flache Hand zum Mund und erwiderte den Luftkuss.

Sein Blick ruhte noch eine kleine Weile auf dem, was von seinem Vater geblieben war. Dann ging er mit Billy zum Parkplatz hinab. Als sie dort angekommen waren, blickte er noch einmal zurück.

Das Dach der Welt war leer.

BIS DU SCHLÄFST








»FEAR steht für Face Everything And Recover


(Blicke allem ins Auge, und genese).«

Alter AA-Spruch

JUBILÄUM

1

Das in Frazier an jedem Samstagmittag stattfindende AA-Treffen war eines der ältesten in New Hampshire. Es existierte seit 1946 und war von Fat Bob D. initiiert worden, der Bill Wilson, den Gründer des Programms, noch persönlich gekannt hatte. Nun lag Fat Bob schon lange im Grab, ein Opfer von Lungenkrebs – früher hatten die meisten genesenden Alkoholiker gequalmt wie Schlote und Neulinge regelmäßig zu hören bekommen, sie sollten erst mal die Klappe halten und die Aschenbecher ausleeren –, aber das Treffen war immer noch gut besucht. Heute waren sogar alle Plätze belegt, anschließend würde es Pizza und Blechkuchen geben. Das war bei fast allen Jubiläumstreffen so, und heute feierte einer der Teilnehmer fünfzehn Jahre Trockenheit. Früher war er unter dem Namen Dan oder Dan T. bekannt gewesen, aber inzwischen hatte sich herumgesprochen, was er im Hospiz leistete, deshalb nannte man ihn meistens Doc. Da seine Eltern ihn ebenfalls so genannt hatten, fand Dan diesen Spitznamen irgendwie komisch … aber auf gute Art und Weise. Das Leben war ein Rad, dessen einzige Aufgabe darin bestand, sich zu drehen, und es kehrte immer wieder zu seiner Ursprungsposition zurück.

Ein echter Doktor, er hieß John, führte auf Dans Bitte hin den Vorsitz, und das Treffen nahm seinen gewohnten Gang. Es gab Gelächter, als Randy M. erzählte, wie er dem Cop, von dem er bei seiner letzten Trunkenheitsfahrt festgenommen worden sei, auf die Uniform gekotzt habe, und weiteres Gelächter, als er fortfuhr, ein Jahr später habe er entdeckt, dass der Cop selbst am Programm teilnehme. Maggie M. weinte, als sie erzählte (oder, wie es im AA-Jargon hieß, mit den anderen teilte), dass man ihr erneut das gemeinsame Sorgerecht für ihre beiden Kinder verweigert habe. Man reagierte mit den üblichen Klischees – alles braucht seine Zeit; es klappt schon, wenn du es nur willst; gib nicht auf, bis das Wunder geschieht –, und schließlich beruhigte Maggie sich schniefend. Wie üblich rief jemand: Ausschalten, sagt die höhere Macht!, als ein Handy läutete. Eine Frau mit zittrigen Händen verschüttete eine Tasse Kaffee; es kam wirklich sehr selten vor, dass bei einem Treffen nicht mindestens eine Tasse verschüttet wurde.

Um zehn vor eins reichte John D. das Körbchen herum (»AA-Gruppen sollten sich vollkommen selbst erhalten durch freiwillige Spenden ihrer Mitglieder«) und fragte, ob es Ankündigungen gebe. Trevor K., der das Treffen eröffnet hatte, erhob sich und bat – wie immer – um Unterstützung beim Reinigen der Küche und beim Wegräumen der Stühle. Yolanda V. verteilte die fälligen Chips, diesmal zwei weiße (für vierundzwanzig Stunden) und einen violetten (für fünf Monate). Wie immer endete sie mit dem Spruch: »Wenn du heute nichts getrunken hast, dann klatsch dir und deiner höheren Macht Beifall!«

Das taten alle.

Als der Beifall verebbt war, sagte John: »Heute feiern wir einen fünfzehnten Geburtstag. Casey K. und Dan T., kommt ihr bitte her?«

Die Teilnehmer applaudierten, während Dan nach vorn ging – langsam, um mit Casey Schritt zu halten, der inzwischen einen Stock zu Hilfe nahm. John überreichte Casey die Medaille mit der Zahl XV, und Casey hielt sie hoch, damit alle sie sehen konnten. »Ich hätte nie gedacht, dass dieser Kerl es schafft«, sagte er. »Weil er nämlich von Anfang an AA war. Womit ich ein Arschloch mit Allüren meine.«

Der Kalauer wurde pflichtschuldig belacht. Dan lächelte immerhin, aber er hatte heftiges Herzklopfen. Er hoffte inständig, das, was als Nächstes kam, zu überstehen, ohne dabei umzukippen. Als er das letzte Mal so große Angst gehabt hatte, da hatte er am Dach der Welt gestanden, zu Rose the Hat hinaufgeblickt und versucht, sich nicht eigenhändig zu erwürgen.

Beeil dich, Casey. Bitte. Sonst verliere ich entweder den Mut, oder das Frühstück kommt mir hoch.

Man hätte meinen können, dass Casey auch Shining besaß … aber vielleicht hatte er auch nur etwas in Dans Augen gesehen. Jedenfalls kürzte er seine Ansprache ab. »Aber er hat meine Erwartungen übertroffen und ist genesen. Von sieben Alkoholikern, die durch unsere Tür treten, gehen sechs wieder raus, um sich zu besaufen. Der siebte ist das Wunder, für das wir alle leben. Eines dieser Wunder steht hier neben mir, in voller Lebensgröße und frech wie Oskar. Hier, Doc, bitte sehr – du hast es dir verdient!«

Er überreichte Dan die Medaille. Der dachte einen Augenblick, sie würde ihm durch die klammen Finger gleiten und auf den Boden fallen. Casey schloss seine Hand darum, bevor das passieren konnte, dann zog er Dan in eine feste Umarmung. »Wieder ein Jahr, du Bastard«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Glückwunsch!«

Casey stapfte durch den Mittelgang nach hinten, wo er aufgrund seiner langen Zugehörigkeit neben den anderen Oldtimern saß. Damit stand Dan allein vorn. Er umklammerte seine Fünfzehnjahresmedaille so fest, dass an seinem Handgelenk die Sehnen hervortraten. Die versammelten Alkis betrachteten ihn aufmerksam und warteten auf das, was man sich durch langjährige Trockenheit angeblich aneignete: Erfahrung, Kraft und Hoffnung.

»Vor einigen Jahren …«, fing er an und musste sich dann erst einmal räuspern. »Vor einigen Jahren, als ich mit dem fußlahmen Gentleman, der sich da hinten gerade auf den Hosenboden setzt, Kaffee trank, da hat er mich gefragt, ob ich den fünften Schritt getan hätte – ob ich Gott, mir selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt meine Fehler zugegeben hätte. Mehr oder weniger, hab ich geantwortet. Für Leute, die nicht mit unserem speziellen Problem zu tun haben, hätte das wahrscheinlich ausgereicht … was einer der Gründe ist, weshalb wir sie als Erdlinge bezeichnen.«

Das Publikum kicherte. Dan holte tief Luft und sagte sich, wenn er schon Rose und ihrem Wahren Knoten entgegengetreten sei, dann könne er auch das hier jetzt schaffen. Allerdings war das hier etwas anderes. Hier war Dan kein Held, sondern ein Drecksack. Er hatte zwar lange genug gelebt zu wissen, dass in jedem ein kleiner Drecksack steckte, aber das half nicht viel, wenn man vor aller Augen den eigenen Dreck ausbreiten musste.

»Casey hat geahnt, dass es einen Fehler gibt, über den ich nicht ganz hinwegkomme, weil ich mich zu sehr schäme, darüber zu sprechen. Und dass ich damit aufhören soll. Er hat mich an etwas erinnert, was man bei fast jedem Treffen zu hören bekommt – wir sind nur so krank wie unsere Geheimnisse. Und er hat gesagt, wenn ich meines nicht erzähle, dann würde ich mich irgendwann mit einem Glas Schnaps in der Hand in einer Kneipe wiederfinden. Hab ich das einigermaßen richtig wiedergegeben, Casey?«

Hinten im Raum nickte Casey, die Hände auf seinem Gehstock gefaltet.

Hinten in den Augen spürte Dan ein Brennen, das baldige Tränen ankündigte. Gott, hilf mir, das durchzustehen, ohne loszuplärren, dachte er. Bitte.

»Ich habe mein Geheimnis niemand verraten. Viele Jahre lang habe ich mir gesagt, dass es das Einzige ist, was ich nie irgendjemand erzählen würde. Aber ich glaube, Casey hatte recht, und wenn ich wieder anfangen würde zu trinken, dann würde ich sterben. Das will ich nicht. Inzwischen habe ich nämlich viel, wofür es sich zu leben lohnt. Deshalb …«

Die Tränen waren gekommen, die verfluchten Tränen, aber er hatte sich bereits zu weit vorgewagt, als das er einen Rückzieher machen konnte. Deshalb wischte er die Tränen mit der Hand, die nicht um die Medaille geballt war, weg.

»Ihr wisst ja, wie es in den Zwölf Versprechen heißt. Dass wir lernen wollen, die Vergangenheit weder zu beklagen noch uns zu wünschen, wir könnten die Tür hinter ihr zuschlagen. Entschuldigt meine Wortwahl, aber wenn es einen Brocken Schwachsinn in diesem Programm voller Wahrheiten gibt, dann das. Ich bereue viel, aber es ist an der Zeit, die Tür zu öffnen, so wenig ich das will.«

Die anderen warteten. Selbst die beiden Frauen, die damit beschäftigt gewesen waren, Pappteller mit Pizzastücken zu verteilen, standen nun in der Küchentür und beobachteten ihn.

»Nicht lange bevor ich mit dem Trinken aufgehört habe, bin ich einmal neben einer Frau aufgewacht, die ich in einer Kneipe aufgegabelt hatte. Wir lagen in ihrer Wohnung, einer richtig miesen Bude, weil sie fast nichts besaß. Ich konnte ihre Situation nachempfinden, weil ich selber fast nichts besaß, und wahrscheinlich waren wir beide aus demselben Grund pleite. Ihr wisst ja alle, was dieser Grund war.« Er zuckte die Achseln. »Wenn du zu uns gehörst, nimmt die Flasche dir weg, was du besitzt. Erst ein wenig, dann viel, dann alles.

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