Doctor Sleep - Страница 19


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Endlich brachte Dan die Worte heraus, vor denen er sein ganzes Leben lang davongelaufen war.

»Ich brauche Hilfe.«

Er wischte sich mit dem Arm über die Augen. Und während er das tat, bückte Kingsley sich und griff nach der Weinflasche. Sein Gegenüber hielt einen Moment lang fest … dann ließ er los.

»Sie haben es gründlich satt«, sagte Kingsley. »Das sehe ich. Aber haben Sie es satt, es sattzuhaben?«

Dan blickte zu ihm hoch. In seiner Kehle arbeitete es. Er plagte sich noch ein wenig, dann sagte er: »Sie ahnen nicht, wie sehr.«

»Vielleicht ahne ich es doch.« Aus seiner geräumigen Hose zog Kingsley einen riesigen Schlüsselbund. Er steckte einen Schlüssel in die Tür, auf deren Milchglasscheibe STÄDTISCHE DIENSTE FRAZIER stand. »Kommen Sie rein. Reden wir darüber.«

Kapitel zwei
BÖSE ZAHLEN

1

Die alte Dichterin mit dem italienischen Vornamen und dem amerikanischen Familiennamen saß mit ihrer schlafenden Urenkelin auf dem Schoß da und sah sich das Video an, das der Mann ihrer Enkelin drei Wochen zuvor im Entbindungsraum aufgenommen hatte. Es begann mit einer Titelkarte: ABRA BETRITT DIE WELT! Die Aufnahmen waren wacklig, und David hatte sich von allem allzu Medizinischen ferngehalten (Gott sei Dank), aber Concetta Reynolds sah die schweißnass an Lucias Stirn klebenden Haare, hörte sie »Tu ich doch!« schreien, als eine der Schwestern sie aufforderte zu pressen, und sah die Blutstropfen auf dem blauen Laken – nicht viele, gerade genug, das zu demonstrieren, was Chettas eigene Großmutter als »gute Leistung« bezeichnet hätte. Auf italienisch natürlich.

Das Bild zitterte, als endlich das Baby in Sicht kam, und Chetta spürte, wie ihr eine Gänsehaut über Rücken und Arme lief, als Lucy schrie: »Sie hat kein Gesicht!«

David, der neben Lucy auf dem Sofa saß, gluckste. Denn natürlich hatte Abra doch ein Gesicht, ein sehr süßes sogar. Chetta blickte darauf hinab, als wollte sie sich dessen vergewissern. Als sie wieder aufblickte, wurde das neugeborene Baby seiner Mutter in die Arme gelegt. Dreißig oder vierzig verwackelte Sekunden später erschien eine zweite Titelkarte: ALLES GUTE ZUM GEBURTSTAG, ABRA RAFAELLA STONE!

David drückte die rote Taste auf der Fernbedienung.

»Du gehörst zu den ganz wenigen Leuten, die das jemals zu sehen bekommen«, verkündete Lucy mit fester, unerbittlicher Stimme. »Es ist peinlich.«

»Es ist wunderbar«, sagte Dave. »Und es gibt eine Person, die es bestimmt zu sehen bekommt, nämlich Abra selbst.« Er warf einen kurzen Seitenblick auf seine Frau. »Wenn sie alt genug ist. Und nur wenn sie es will, natürlich.« Er tätschelte Lucy den Oberschenkel, dann grinste er seine Schwiegeroma an, eine Frau, die er respektierte, jedoch nicht besonders mochte. »Bis dahin kommt es ins Bankschließfach zu den Versicherungspolicen, den Unterlagen vom Haus und meinen Drogenmillionen.«

Concetta lächelte zur Bestätigung, dass sie den Scherz verstanden hatte, aber sie lächelte nur dünn, um auszudrücken, dass sie ihn nicht besonders witzig fand. Abra auf ihrem Schoß schlief tief und fest. In gewisser Weise wurden alle Babys mit einer Glückshaube geboren, dachte sie, denn deren winzige Gesichter waren Schleier aus Geheimnissen und Möglichkeiten. Vielleicht war das etwas, worüber sie schreiben sollte. Vielleicht auch nicht.

Concetta war im Alter von zwölf Jahren nach Amerika gekommen und sprach perfekt englisch – nicht weiter überraschend, da sie es am Vassar College studiert hatte und emeritierte Professorin ebendieses Fachs war –, aber in ihrem Kopf waren jeder Aberglaube und jede Altweibergeschichte noch lebendig. Manchmal gaben diese Elemente in ihrem Innern ihr Befehle, und wenn sie das taten, sprachen sie immer italienisch. Chetta fand, dass die meisten Künstler ausgesprochen funktionstüchtige Schizophrene waren, sie selbst eingeschlossen. Sie wusste zwar, dass Aberglaube völliger Blödsinn war, trotzdem spuckte sie zwischen ihre Finger, wenn eine Krähe oder eine schwarze Katze ihren Weg kreuzte.

Einen Großteil ihrer eigenen Schizophrenie verdankte sie den Barmherzigen Schwestern. Die glaubten an Gott, sie glaubten an die Göttlichkeit von Jesus, sie glaubten, Spiegel wären verhext und einem Kind, das zu lange in einen hineinsah, würden Warzen wachsen. Es waren die Frauen, die zwischen Chettas achtem und dreizehntem Lebensjahr den größten Einfluss auf ihr Leben ausgeübt hatten. Sie hatten Lineale in den Gürteln stecken – zum Schlagen, nicht zum Messen –, und sie sahen kein Kinderohr, ohne das Bedürfnis zu verspüren, im Vorübergehen daran zu ziehen.

Lucy streckte die Arme nach dem Baby aus. Widerstrebend überreichte Chetta es ihr. Die Kleine war einfach goldig.

2

Zwanzig Meilen südöstlich des Ortes, an dem Abra in den Armen von Concetta Reynolds geschlafen hatte, saß Dan Torrance bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker, während irgendeine Tusse gerade über Sex mit ihrem Ex schwadronierte. Casey Kingsley hatte ihm aufgetragen, innerhalb von neunzig Tagen an neunzig Meetings teilzunehmen, und dieses, ein Mittagstermin im Untergeschoss der Methodistenkirche von Frazier, war sein achtes. Er saß in der ersten Reihe, weil Casey – in diesen Kreisen als Big Casey bekannt – ihm das ebenfalls aufgetragen hatte.

»Kranke, die genesen wollen, sitzen vorn, Danny. In den hinteren Reihen sitzen bei AA-Meetings nur die Leugner.«

Casey hatte ihm ein kleines Notizbuch geschenkt. Auf dem Einband war ein Foto von Meereswellen, die sich an einem Felsvorsprung brachen. Darüber stand ein Motto, das Dan zwar nachvollziehen konnte, aber nicht besonders treffend fand: NICHTS GROSSES ENTSTEHT IM AUGENBLICK.

»In dem Büchlein da notierst du jedes einzelne Meeting, zu dem du gehst. Und jedes Mal wenn ich es sehen will, holst du es aus der Tasche und zeigst mir, dass du tatsächlich täglich teilgenommen hast.«

»Darf ich mir nicht mal einen Krankheitstag erlauben?«

Casey lachte. »Du bist doch ohnehin schon täglich krank, mein Freund – schließlich bist du ein waschechter Alkoholiker. Willst du noch etwas wissen, was mein eigener Sponsor mir gesagt hat?«

»Ich glaube, das hast du mir schon erzählt. Aus einem Omelett kann man kein Ei mehr machen, stimmt’s?«

»Sei kein Klugscheißer, hör einfach zu.«

Dan seufzte. »Ich höre.«

»›Beweg deinen Arsch zu den Meetings‹, hat er gesagt. ›Und wenn dir der Arsch abfällt, steck ihn in eine Tüte, und nimm ihn zum Meeting mit.‹«

»Reizend. Was ist, wenn ich es mal vergesse?«

Casey hatte mit den Achseln gezuckt. »Dann musst du dir einen anderen Sponsor suchen, einen, der an Vergesslichkeit glaubt. Ich tu das nicht.«

Dan fühlte sich wie ein zerbrechlicher Gegenstand, der an den Rand eines hohen Regals gerutscht, aber noch nicht ganz heruntergefallen war, und er wollte keinen anderen Sponsor oder irgendwelche sonstigen Veränderungen. Er fühlte sich ganz gut, aber empfindlich. Sehr empfindlich. Fast hautlos. Die Visionen, die ihn nach seiner Ankunft in Frazier geplagt hatten, waren verschwunden, und er dachte zwar oft an Deenie und ihren kleinen Jungen, aber diese Gedanken waren längst nicht mehr so schmerzhaft. Am Ende fast jeden AA-Meetings las jemand die Versprechen vor. Eines davon lautete: Wir wollen die Vergangenheit weder beklagen noch die Tür hinter ihr zuschlagen. Dan dachte, er würde die Vergangenheit immer beklagen, aber er versuchte wenigstens nicht mehr, die Tür hinter ihr zuzuschlagen. Wieso sollte er sich auch die Mühe machen, wenn sie sich doch gleich wieder öffnete? Das verfluchte Ding hatte ja keinen Riegel, geschweige denn ein Schloss.

Während er dasaß, begann er in Druckbuchstaben ein einzelnes Wort auf die aktuelle Seite des Büchleins zu schreiben, das Casey ihm geschenkt hatte. Er malte große, verschnörkelte Buchstaben. Weshalb er das tat und was es bedeutete, wusste er nicht. Das Wort war ABRA.

Inzwischen hatte die Sprecherin ihre Vorstellung beendet und brach in Tränen aus. Weinend erklärte sie, ihr Ex sei ein Scheißkerl und sie liebe ihn immer noch, aber sie sei dankbar, jetzt trocken zu sein. Dan schloss sich dem Beifall der anderen Teilnehmer an, dann begann er, die Buchstaben mit seinem Kugelschreiber zu kolorieren. Sie dicker zu machen. Sie hervorzuheben.

Kenne ich diesen Namen? Ich glaube schon.

Während der nächste Teilnehmer zu sprechen anfing und Dan zum Kaffeespender ging, um sich eine neue Tasse zu holen, fiel es ihm ein. Abra war der Name einer jungen Frau in einem Roman von John Steinbeck. Jenseits von Eden. Wo hatte er den nur gelesen … er erinnerte sich nicht mehr. Bei einem Zwischenstopp. Irgendwo. War auch egal.

Ein anderer Gedanke

(hast du sie aufbewahrt)

stieg an die Oberfläche seines Bewusstseins wie eine Luftblase und platzte.

Was aufbewahrt?

Frankie P., der alte Kerl, von dem das Meeting geleitet wurde, erkundigte sich, ob jemand die Medaillen verteilen wolle. Als niemand die Hand hob, zeigte Frankie auf Dan. »Was ist mit dir da hinten beim Kaffee?«

Verlegen ging Dan nach vorn und hoffte, sich an die Reihenfolge der Medaillen erinnern zu können. Die erste – weiß für Neulinge – besaß er bereits. Während er die zerbeulte Keksdose mit den Chips und Medaillen entgegennahm, meldete der Gedanke sich wieder.

Hast du sie aufbewahrt?

3

Dies war der Tag, an dem der Wahre Knoten, der auf einem öffentlichen Campingplatz in Arizona überwintert hatte, aufbrach und wieder nach Osten reiste. In der üblichen Karawane fuhr man auf der Route 77 in Richtung Show Low: vierzehn Wohnmobile, teils mit angehängten Pkws, teils mit am Heck befestigten Gartenstühlen oder Fahrrädern. Es waren Southwinds und Winnebagos, Monacos und Bounders. Der EarthCruiser von Rose – ein siebenhunderttausend Dollar teures Prachtstück aus importiertem Stahl, das beste Wohnmobil auf dem Markt – führte die Parade an. Aber langsam, mit nicht mehr als fünfundfünfzig Meilen pro Stunde.

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