Doctor Sleep - Страница 3


К оглавлению

3

»Weißt du über Kinderschänder Bescheid?«, fragte Dick. »Über Kerle, die mit Kindern Sex haben wollen?«

»So in etwa«, sagte Danny vorsichtig. Er wusste auf jeden Fall, dass er nicht mit Fremden sprechen und erst recht nicht zu einem ins Auto steigen sollte. Weil die einem was antun konnten.

»Tja, der alte Andy war nicht bloß ein Kinderschänder. Er war außerdem ein verfluchter Sadist.«

»Was ist das denn?«

»Jemand, dem es Spaß macht, anderen Schmerzen zuzufügen.«

Danny nickte, weil er das sofort begriff. »Wie Frankie Listrone bei mir in der Schule. Der verdreht einem den Arm und nimmt einen in den Schwitzkasten. Wenn er’s nicht schafft, einen zum Weinen zu bringen, hört er auf. Aber wenn er es schafft, hört er nie auf.«

»So was ist schlimm, aber das war schlimmer.«

Dick verfiel in einen Zustand, den ein Passant als Schweigen interpretiert hätte, aber die Geschichte ging weiter, mit einer Reihe von Bildern und Sätzen, die jene miteinander verbanden. Danny sah den Schwarzen Opa, einen hochgewachsenen Mann in einem Anzug, der so schwarz war wie er selbst, und mit einem eigenartigen

(Filzhut)

Hut auf dem Kopf. Er sah, dass dieser Mann immer Speichelbläschen in den Mundwinkeln hatte und dass seine Augen rot gerändert waren, als wäre er müde oder hätte gerade geweint. Danny sah, wie der Mann Dick – jünger, als Danny jetzt war, etwa so alt, wie er in jenem Winter im Overlook gewesen war – auf den Schoß nahm. Wenn die beiden nicht allein waren, beschränkte er sich aufs Kitzeln. Sonst griff er Dick mit der Hand zwischen die Beine und drückte ihm die Eier zusammen, bis Dick dachte, er würde vor Schmerz in Ohnmacht fallen.

»Na, magst du das?«, keuchte der Schwarze Opa Dick ins Ohr. Er roch nach Zigaretten und Whiskey. »Klar magst du das, jeder Junge mag das. Aber selbst wenn du’s nicht magst, erzählst du niemand was, klar? Sonst tu ich dir weh. Ich werde dich verbrennen.«

»Scheiße«, sagte Danny. »Das ist krass.«

»Das ist noch lange nicht alles«, sagte Dick. »Aber ich werd dir nur noch eines erzählen. Nachdem seine Frau gestorben war, hat der Schwarze Opa eine andere Frau angestellt, die ihm im Haushalt helfen sollte. Sie hat geputzt und gekocht. Beim Essen hat sie alles zusammen auf den Tisch geknallt, vom Salat bis zum Nachtisch, das hat dem alten Schwarzen Opa nämlich so gepasst. Zum Nachtisch gab’s immer Kuchen oder Pudding. Der kleine Teller damit stand neben dem großen Teller, damit man ihn ansehen und Hunger drauf bekommen sollte, während man das andere Zeug runtergewürgt hat. Bei Opa galt die eiserne Regel, dass man den Nachtisch zwar ansehen, aber nicht essen durfte, bis man jeden Bissen gebratenes Fleisch und gekochtes Gemüse und Kartoffelpüree aufgegessen hatte. Man musste sogar die Soße verputzen, die klumpig war und nach nichts geschmeckt hat. Wenn die nicht ganz weg war, hat der Schwarze Opa mir ein Stück Brot gegeben und gesagt: ›Saug sie damit auf, Dickie-Bird, mach deinen Teller blitzblank, wie wenn der Hund ihn abgeschleckt hätte.‹ So hat er mich genannt, Dickie-Bird.

Manchmal hab ich es einfach nicht geschafft aufzuessen, und dann hab ich den Kuchen oder den Pudding nicht bekommen. Er hat das Zeug genommen und selber gegessen. Und manchmal, wenn ich es doch geschafft hab, hab ich gemerkt, dass er eine Zigarettenkippe in mein Stück Kuchen oder meinen Vanillepudding gesteckt hat. Das konnte er tun, weil er immer neben mir gesessen hat. Er hat es als tollen Scherz ausgegeben. ›Ach, da hab ich wohl den Aschenbecher nicht getroffen‹, hat er gesagt. Meine Mutter und mein Vater haben nie was dagegen unternommen, obwohl ihnen sicher klar war, dass man so was mit einem Kind nicht macht, selbst wenn es ein Scherz sein soll. Stattdessen haben sie einfach mitgespielt und auch getan, als wäre es ein Scherz.«

»Das ist echt schlimm«, sagte Danny. »Deine Eltern hätten dich beschützen sollen. Meine Mama tut das. Mein Daddy würde es auch tun.«

»Sie haben sich vor ihm gefürchtet, und das hatte gute Gründe. Andy Hallorann war ein richtig übler Typ. Er hat gesagt: ›Los, Dickie, iss einfach drum herum, es wird dich schon nicht vergiften.‹ Wenn ich einen Bissen gegessen hab, musste Nonnie – so hieß seine Haushälterin – mir einen neuen Nachtisch bringen. Und wenn nicht, blieb das Zeug einfach stehen. Nach einer Weile konnte ich nie mehr aufessen, weil mir immer ganz übel geworden ist.«

»Du hättest deinen Nachtisch auf die andere Seite von deinem Teller stellen sollen«, sagte Danny.

»Das hab ich schon versucht, ich bin ja nicht blöd. Dann hat er den Teller einfach zurückgestellt und gesagt, der Nachtisch steht immer rechts.« Dick schwieg und blickte aufs Wasser hinaus, wo ein langes, weißes Schiff langsam über die Trennlinie zwischen dem Himmel und dem Golf von Mexiko zog. »Wenn er mich allein erwischt hat, dann hat er mich manchmal gebissen. Und einmal, als ich gesagt hab, wenn er mich nicht in Ruhe lässt, sag ich’s meinem Vater, da hat er seine Zigarette auf meinem nackten Fuß ausgedrückt. ›Erzähl ihm das doch auch gleich, und sieh mal, was dir das bringt‹, hat er gesagt. ›Dein Daddy kennt mich schon, und der sagt nie ein Wort, weil er die Hosen voll hat und weil ich Geld auf der Bank hab. Das will er haben, wenn ich ins Gras beiße, aber da kann er noch ’ne Weile warten.‹«

Danny lauschte mit weit aufgerissenen Augen. Er hatte immer gedacht, die gruseligste Geschichte wäre die von Blaubart, so gruselig, wie es nur sein konnte, aber diese Geschichte war schlimmer. Weil sie wahr war.

»Manchmal hat er gesagt, er kennt einen schlechten Kerl namens Charlie Manx, und wenn ich nicht tue, was er will, dann ruft er ihn an, damit der mit seinem schicken Auto kommt und mich an einen Ort für unartige Kinder bringt. Und dann hat Opa mir wieder mit der Hand zwischen die Beine gegriffen und zugedrückt. ›Deshalb wirst du kein Wort sagen, Dickie-Bird. Wenn du’s doch tust, kommt der alte Charlie und sperrt dich zu den anderen Kindern, die er geklaut hat, bis du stirbst. Außerdem kommst du in die Hölle, wo du für immer brennen musst. Weil du gepetzt hast. Ganz egal ob jemand dir glaubt oder nicht, Petzen ist Petzen.‹

Lange hab ich dem alten Bastard geglaubt. Nicht mal meiner Weißen Oma hab ich was erzählt, der mit dem Shining, weil ich Angst hatte, dass sie glaubt, es ist meine eigene Schuld. Wenn ich älter gewesen wäre, hätte ich’s besser gewusst, aber ich war noch ein Kind.« Er schwieg. »Außerdem war da noch etwas anderes. Weißt du, was es war, Danny?«

Danny blickte Dick lange ins Gesicht, um die Gedanken und Bilder hinter dessen Stirn zu erforschen. Schließlich sagte er: »Du wolltest, dass dein Vater das Geld kriegt. Aber er hat’s nie bekommen.«

»Genau. Der Schwarze Opa hat alles in Alabama einem Waisenheim für Farbige hinterlassen, und ich glaube, ich weiß, warum. Aber das tut nichts zur Sache.«

»Und deine gute Oma hat nie was erfahren? Sie hat’s nie erraten?«

»Sie wusste, dass irgendwas los ist, aber ich hab’s abgeblockt, also hat sie mich in Ruhe gelassen. Hat mir bloß gesagt, wann immer ich bereit bin zu reden, ist sie bereit, mir zuzuhören. Danny, als Andy Hallorann gestorben ist – nach einem Schlaganfall –, war ich der glücklichste Junge auf Erden. Meine Ma hat gesagt, ich muss nicht zur Beerdigung gehen und kann bei Oma Rose – meiner Weißen Oma – bleiben, wenn ich will, aber ich wollte hin. Auf jeden Fall. Ich wollte auf Nummer sicher gehen, dass der alte Schwarze Opa wirklich tot ist.

An dem Tag hat’s geregnet. Alle standen mit schwarzen Regenschirmen um das Grab herum. Ich hab zugesehen, wie sein Sarg – der größte und beste in seinem Laden, ganz bestimmt – im Boden verschwunden ist, und ich hab an all die Male gedacht, wo er mir die Eier gequetscht hat, an die ganzen Kippen in meinem Nachtisch und an die, die er auf meinem Fuß ausgedrückt hat, und daran, wie er am Esstisch gethront hat wie der irre alte König in diesem Stück von Shakespeare. Aber vor allem hab ich an Charlie Manx gedacht – den er sich mit Sicherheit aus den Fingern gesaugt hatte – und dass er nie mehr bei Charlie Manx anrufen konnte, damit der nachts kam, um mich in seinem schicken Wagen abzuholen und zu den anderen Jungen und Mädchen zu sperren, die er gestohlen hatte.

Ich hab über den Rand vom Grab gespäht – ›Lass den Jungen‹, hat mein Pa gesagt, als meine Ma versucht hat, mich zurückzuziehen –, und da hab ich den Sarg unten in dem feuchten Loch gesehen und gedacht: Da unten bist du zwei Meter näher an der Hölle, Schwarzer Opa, und bald bist du ganz da, und ich hoffe, der Teufel gibt dir tausend Hiebe mit einer Hand, die in Flammen steht.«

Dick griff in die Hosentasche und zog eine Packung Marlboro mit einem Streichholzbriefchen unter der Zellophanhülle hervor. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund und musste sie dann mit dem Streichholz verfolgen, weil seine Hand zitterte und seine Lippen ebenfalls. Danny sah erstaunt, dass in Dicks Augen Tränen standen.

Da er nun wusste, wo die Geschichte hinführte, fragte er: »Wann ist er wiedergekommen?«

Dick nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und lächelte, als er den Rauch ausstieß. »Um das zu kapieren, musstest du mir nicht mal in den Kopf schauen, was?«

»Nein.«

»Sechs Monate später. Irgendwann bin ich von der Schule heimgekommen, und er lag nackt auf meinem Bett. Sein halb verfaulter Schwanz war in die Höhe gereckt. ›Los, komm, setzt dich da drauf, Dickie-Bird‹, hat er gesagt. ›Wenn du mir tausend Hiebe verpasst, kriegst du von mir zweitausend.‹ Ich hab geschrien, aber es war niemand da, der mich gehört hat. Meine Eltern waren beide bei der Arbeit, meine Ma in einem Restaurant und mein Dad in einer Druckerei. Ich bin rausgerannt und hab die Tür zugeknallt. Da hab ich gehört, wie der Schwarze Opa aufsteht … rums … und durchs Zimmer geht … rums-rums-rums … und was ich als Nächstes gehört hab, waren …«

3