Doctor Sleep - Страница 5


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Als der frühere Eigentümer des Overlooks kurz nach Neujahr wiederauftauchte, diesmal im Schrank von Dannys Zimmer, war Danny bereit. Er schlüpfte in den Schrank und zog die Tür zu. Kurze Zeit später kam auf das Regal hoch oben in seinem Kopf ein zweites mentales Schließfach neben das, in dem Mrs. Massey eingesperrt war. Wieder hörte Danny Klopfgeräusche und ein paar einfallsreiche Flüche, die er sich für den späteren Gebrauch merkte. Das Ganze endete jedoch ziemlich bald, worauf in dem Schließfach mit Derwent ebenso Schweigen herrschte wie in dem mit Mrs. Massey. Ob die beiden noch am Leben waren (auf ihre untote Weise), war nicht mehr wichtig.

Wichtig war, dass sie nie mehr herauskonnten. Danny war in Sicherheit.

Das dachte er damals jedenfalls. Natürlich dachte er auch, er würde niemals Alkohol trinken, nachdem er erlebt hatte, was der aus seinem Vater gemacht hatte.

Manchmal kapieren wir es einfach nicht.

KLAPPERSCHLANGE

1

Sie hieß Andrea Steiner, und sie mochte Filme, wohingegen sie Männer nicht mochte. Was nicht weiter überraschend war, da ihr Vater sie im Alter von acht Jahren zum ersten Mal vergewaltigt hatte. Anschließend hatte er sie dieselbe Zahl von Jahren weiter vergewaltigt. Schließlich hatte sie dem ein Ende gemacht, indem sie ihm mit einer aus dem Vorrat ihrer Mutter stammenden Stricknadel zuerst nacheinander die Eier durchbohrt und dann dieselbe Nadel, rot und tropfend, in den linken Augapfel ihres Vergewaltigers und Erzeugers gestochen hatte. Das mit den Eiern war leicht gewesen, weil er gerade geschlafen hatte, doch trotz ihrem besonderen Talent hatte der Schmerz ausgereicht, ihn aufzuwecken. Allerdings war sie ein kräftiges Mädchen, und er war besoffen gewesen. Sie hatte ihn mit ihrem Körper gerade lange genug niederhalten können, dass sie ihm den Gnadenstoß verpassen konnte.

Nun war sie vier mal acht Jahre alt und streifte durch Amerika. Ein früherer Schauspieler hatte den Erdnussfarmer im Weißen Haus abgelöst. Der Neue hatte die unnatürlich schwarzen Haare und das charmante, unglaubwürdige Lächeln eines Hollywood-Mimen. Im Fernsehen hatte Andi einen seiner Filme gesehen. Darin spielte der Mann, der später Präsident werden sollte, einen Kerl, der seine Beine verlor, als ein Zug darüberfuhr. Die Vorstellung eines Mannes ohne Beine gefiel ihr; ein Mann ohne Beine konnte einem nicht nachstellen, um einen zu vergewaltigen.

Filme, die waren ihr Ding. Filme konnten einen woandershin entführen. Bei denen gab es Popcorn und ein Happy End. Wenn man einen Mann dabeihatte, war es ein Rendezvous, und er zahlte. Der Film, den sie gerade sah, war ein guter, mit Kämpfen und Küssen und lauter Musik. Er hieß Jäger des verlorenen Schatzes. Ihr momentaner Begleiter hatte seine Hand unter ihrem Rock, ganz oben auf ihrem nackten Oberschenkel, aber das war in Ordnung; eine Hand war kein Schwanz. Sie hatte ihn in einer Kneipe kennengelernt. Die meisten Männer, mit denen sie ausging, hatte sie in einer Kneipe getroffen. Er hatte ihr einen Drink spendiert, aber so was war noch kein Rendezvous, das war bloß eine zufällige Bekanntschaft.

Was ist denn das, hatte er sie gefragt und war ihr mit der Fingerspitze über den linken Oberarm gefahren. Sie trug eine ärmellose Bluse, weshalb das Tattoo sichtbar war. Das ließ sie gern aufblitzen, wenn sie es auf ein Rendezvous abgesehen hatte. Sie wollte, dass die Männer es sahen. Die fanden es nämlich sexy. Sie hatte es sich in San Diego stechen lassen, ein Jahr nachdem sie ihren Vater getötet hatte.

Das ist eine Schlange, sagte sie. Eine Klapperschlange. Siehst du die Zähne nicht?

Natürlich sah er die. Es waren große Zähne, die in keinem Verhältnis zum Kopf standen. An einem hing ein Tropfen Gift.

Er war vom Typ Geschäftsmann mit teurem Anzug und massenhaft zurückgekämmtem Präsidentenhaar und hatte den Nachmittag frei. Sonst erledigte er wahrscheinlich irgendwelchen Papierkram. Seine Haare waren allerdings eher weiß als schwarz, und dem Aussehen nach war er etwa sechzig. Fast zweimal so alt wie sie. Aber Männern war so was egal. Es hätte ihn nicht mal geschert, wenn sie sechzehn statt zweiunddreißig gewesen wäre. Oder acht. Sie erinnerte sich an etwas, was ihr Vater einmal gesagt hatte: Wer alt genug zum Pinkeln ist, kann auch gefickt werden.

Natürlich sehe ich die, hatte der Mann, der jetzt neben ihr saß, gesagt. Aber was hat das Ding zu bedeuten?

Vielleicht kriegst du’s später ja raus, erwiderte Andi und legte die Zungenspitze an die Oberlippe. Ich hab noch ein zweites Tattoo. Woanders.

Darf ich es sehen?

Vielleicht. Magst du Filme?

Er hatte die Stirn gerunzelt. Wieso?

Du willst doch mit mir ausgehen, oder?

Er wusste, was das bedeutete – oder was es hätte bedeuten sollen. In der Kneipe befanden sich noch andere junge Frauen, und wenn die so etwas sagten, meinten sie etwas ganz Bestimmtes. Aber das war es nicht, was Andi meinte.

Klar. Du bist süß.

Dann geh doch mit mir aus. Aber in echt. Im Rialto läuft Jäger des verlorenen Schatzes.

Ich hab eher an das kleine Hotel zwei Straßen weiter gedacht, Süße. Ein Zimmer mit Bar und Balkon, was hältst du davon?

Sie hatte die Lippen nah an sein Ohr gebracht und dafür gesorgt, dass ihre Brüste sich an seinen Arm drückten. Später vielleicht. Geh erst mal mit mir ins Kino. Lad mich ein, und kauf mir Popcorn. Die Dunkelheit bringt mich in Stimmung.

Und da saßen sie und sahen auf der Leinwand Harrison Ford, groß wie ein Wolkenkratzer und mit einer Peitsche, die er im Wüstenstaub krachen ließ. Der alte Typ mit dem Präsidentenhaar hatte seine Hand unter ihrem Rock, aber sie hatte ihren Becher Popcorn so auf dem Schoß platziert, dass er mit der Hand zwar ziemlich weit kam, aber eben doch nicht ganz bis zum Ziel. Trotzdem versuchte er, sich vorbeizumogeln, was ärgerlich war, weil sie den Film zu Ende sehen und herausbekommen wollte, was sich in der Bundeslade befand. Deshalb …

2

Wie üblich an einem Nachmittag mitten in der Woche war das Kino fast leer, aber zwei Reihen hinter Andi Steiner und ihrem Verehrer saßen drei weitere Zuschauer. Zwei Männer, einer ziemlich alt, der andere dem Anschein nach kurz vor dem mittleren Alter (wenngleich der Anschein trügen konnte), dazwischen eine Frau von erstaunlicher Schönheit. Sie hatte hohe Wangenknochen, graue Augen und einen cremefarbenen Teint. Ihr üppiges schwarzes Haar war mit einem breiten Seidenband zurückgebunden. Normalerweise trug sie einen Hut – einen alten, ramponierten Zylinder –, aber den hatte sie an diesem Tag in ihrem Wohnmobil gelassen. Im Kino trug man kein Ofenrohr. Eigentlich hieß sie Rose O’Hara, aber die Familie von Nomaden, mit der sie reiste, nannte sie Rose the Hat.

Der Mann, der allmählich ins mittlere Alter kam, hieß Barry Smith. Er war zwar zu hundert Prozent europäischer Herkunft, in der betreffenden Familie jedoch als Barry the Chink bekannt, und zwar wegen seinen leicht mandelförmigen Augen, die an einen Chinesen erinnerten.

»Jetzt seht euch das mal an«, sagte er. »Das ist ja interessant.«

»Der Film ist interessant«, knurrte der alte Mann, Grampa Flick. Aber das lag nur daran, dass er gern widersprach. Auch er beobachtete das Pärchen zwei Reihen weiter vorn.

»Gut so«, sagte Rose. »Die Frau ist nämlich nicht besonders scharf. Ein bisschen schon, aber …«

»Jetzt legt sie los, jetzt legt sie los«, sagte Barry, als Andi sich zur Seite neigte und die Lippen ans Ohr ihres Verehrers brachte. Barry grinste und hatte die Schachtel Gummibären in seiner Hand ganz vergessen. »Da hab ich nun schon dreimal gesehen, wie sie es macht, und hab noch immer meine Freude dran.«

3

Das Ohr von Mr. Geschäftsmann war mit einem Gestrüpp aus drahtigen weißen Härchen gefüllt und mit kackbraunem Ohrenschmalz verstopft, aber davon ließ Andi sich nicht abhalten. Sie wollte aus dieser Stadt verschwinden, und in ihrer Kasse herrschte gefährliche Ebbe. »Bist du nicht müde?«, flüsterte sie in das ekelhafte Ohr. »Willst du denn nicht einschlafen?«

Sofort sank dem Mann der Kopf auf die Brust, und er begann zu schnarchen. Andi griff unter den Rock, nahm die erschlaffte Hand und legte sie auf die Armlehne. Dann griff sie in die teuer aussehende Anzugjacke von Mr. Geschäftsmann und wühlte darin herum. Seine Brieftasche steckte in der linken Innentasche. Das war gut. Sie musste ihn also nicht dazu bringen, sich von seinem fetten Arsch zu erheben. Sobald die Typen schliefen, war es schwierig, sie zu bewegen.

Sie klappte die Brieftasche auf, warf die Kreditkarten auf den Boden und betrachtete die Fotos eine Weile – Mr. Geschäftsmann mit ein paar ebenfalls übergewichtigen Kollegen auf dem Golfplatz, Mr. Geschäftsmann mit seiner Frau, ein wesentlich jüngerer Mr. Geschäftsmann, der mit seinem Sohn und seinen zwei Töchtern vor einem Weihnachtsbaum stand. Die Töchter trugen Weihnachtsmannmützen und passende Kleidchen. Vergewaltigt hatte er sie wahrscheinlich nicht, wenngleich das nicht völlig ausgeschlossen war. Männer neigten zu Vergewaltigungen, wenn sie damit davonkamen, das hatte sie selbst erfahren. Auf den Knien ihres Vaters sozusagen.

Im Scheinfach steckten über zweihundert Dollar. Sie hatte sich noch mehr erhofft – die Bar, in der sie ihn getroffen hatte, wurde von einer besseren Sorte Huren frequentiert als die Kneipen draußen in der Nähe des Flughafens –, aber für einen Donnerstagnachmittag war es nicht schlecht, und es gab immer Männer, die eine gut aussehende Frau ins Kino einladen wollten, wo ein wenig Fummeln nur als Aperitif diente. Das erhofften sie sich jedenfalls.

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