Doctor Sleep - Страница 100


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Billy blieb an Ort und Stelle sitzen. »Weiß Abra darüber Bescheid?«

Dan schüttelte den Kopf.

»Aber sie könnte es herausbekommen.«

»Ja, aber das tut sie nicht. Sie weiß, dass es falsch ist, ungefragt in jemand hineinzuschauen, besonders wenn es sich um jemand handelt, der einem wichtig ist. Genauso wenig würde sie ihren Eltern nachspionieren, wenn die miteinander im Bett liegen.«

»Hast du das als Kind auch so gehalten?«

»Ja. Manchmal sieht man automatisch ein bisschen – das kann man nicht vermeiden –, aber dann wendet man sich eben davon ab.«

»Und was wird jetzt mit dir geschehen, Danny?«

»Ich halte durch.« Er dachte an die Fliegen, die ihm träge über Lippen, Wangen und Stirn gekrochen waren. »Lange genug.«

»Und dann?«

»Darüber mache ich mir später Sorgen. Eins nach dem anderen. Gehen wir schlafen. Wir müssen früh weiter.«

»Hast du was von Abra gehört?«

Dan lächelte. »Der geht es gut.«

Bisher zumindest.

5

Aber es ging ihr nicht gut, nicht richtig.

Abra saß an ihrem Schreibtisch, ein zur Hälfte gelesenes Buch – Der Fixer – in der Hand, und versuchte, den Blick nicht zum Fenster wandern zu lassen, damit dort nicht eine gewisse Person zu ihr hereinschaute. Sie wusste, dass mit Dan etwas nicht stimmte, und sie wusste, dass sie nicht erfahren sollte, was es war; und obwohl sie sich im Lauf der Jahre beigebracht hatte, sich nicht um die Angelegenheiten von Erwachsenen zu kümmern, fühlte sie sich versucht, in ihn hineinzublicken. Zwei Dinge hielten sie bisher davon ab. Zum einen die Tatsache, dass sie ihm damit jetzt nicht helfen konnte, ob ihr das passte oder nicht. Zum anderen (und das war wichtiger) wusste sie, dass er sie womöglich in seinem Kopf wahrnähme, und dann wäre er enttäuscht von ihr.

Wahrscheinlich ist es sowieso in einem Kästchen eingeschlossen, dachte sie. Das kann er ja. Er ist ziemlich stark.

Allerdings nicht so stark, wie sie es war. Anders gesagt sah er die Dinge nicht so hell wie sie. Sie hätte seine mentalen Schließfächer durchaus öffnen können, um sich anzuschauen, was darin war, aber das war möglicherweise gefährlich für sie beide. Einen konkreten Grund dafür konnte sie nicht angeben, es war bloß ein Gefühl, aber dem vertraute sie, so wie sie auch dem Gefühl vertraut hatte, dass es gut war, wenn Billy Freeman mit nach Colorado fuhr. Außerdem war das, was Dan gerade plagte, wahrscheinlich etwas, was ihnen helfen konnte. Zumindest hoffte sie das. Hoffnung ist schnell und fliegt mit Schwalbenschwingen – das war noch so ein Zitat von Shakespeare.

Und schau nicht zum Fenster hin. Wag es nicht!

Nein. Auf keinen Fall. Niemals. Trotzdem tat sie es, und da war Rose und grinste sie an. Rose mit ihrem verwegen auf die wogenden Haare gesetzten Hut, ihrer blassen Porzellanhaut, ihren dunklen, irren Augen und ihren vollen Lippen, hinter denen sich der einzelne fiese Zahn verbarg. Der Hauer.

Du wirst laut schreiend sterben, du kleines Aas.

Abra schloss die Augen, dachte angestrengt

(nicht da nicht da nicht da)

und öffnete sie wieder. Das grinsende Gesicht am Fenster war verschwunden. Aber nicht ganz und gar. Irgendwo hoch oben in den Bergen – auf dem Dach der Welt – dachte Rose gerade an sie. Und wartete.

6

Das Motel bot ein Frühstücksbüfett an. Weil sein Reisegefährte ihn beobachtete, aß Dan demonstrativ eine Schale Cornflakes mit Joghurt. Billy sah erleichtert aus. Während er die Rechnung zahlte, schlenderte Dan zur nächsten Toilette. Sobald er drin war, schloss er ab, sank auf die Knie und erbrach alles, was er zu sich genommen hatte. Die unverdauten Cornflakes schwammen samt dem Joghurt in einem roten Schaum.

»Alles klar?«, fragte Billy, als Dan zur Rezeption zurückkehrte.

»Und ob«, sagte Dan. »Machen wir uns auf den Weg.«

7

Laut Billys Autoatlas waren es von Cincinnati nach Denver etwa zwölfhundert Meilen. Sidewinder lag etwa fünfundsiebzig Meilen weiter westlich, und der Weg dorthin führte über kurvenreiche Straßen neben steilen Abhängen. Dan setzte sich eine Weile ans Steuer, wurde jedoch schnell müde und übergab wieder an Billy. Er schlief ein, und als er aufwachte, war der Sonntagnachmittag schon vorbei. Die Sonne ging unter. Sie waren in Iowa, der Heimat des toten Bradley Trevor.

(Abra?)

Er hatte gefürchtet, die mentale Kommunikation könnte sich diesmal schwierig gestalten, aber Abra meldete sich sofort und so stark wie eh und je; wäre sie eine Radiostation gewesen, dann eine, die mit hunderttausend Watt sendete. Sie saß in ihrem Zimmer am Computer und tippte an irgendeiner Hausaufgabe. Als Dan wahrnahm, dass sie ihren Stoffhasen Hoppy auf dem Schoß hatte, war er zugleich amüsiert und traurig. Was sie da gemeinsam unternahmen, belastete Abra so sehr, dass sie in einen jüngeren Zustand zurückgekehrt war, zumindest in emotionaler Hinsicht.

Da die Verbindung zwischen ihnen weit offen war, fing sie diesen Gedanken auf.

(mach dir keine Sorgen um mich mir geht’s gut)

(prima weil du bald einen Anruf machen musst)

(ja okay aber wie geht es dir)

(gut)

Sie wusste es besser, fragte jedoch nicht nach, und genau so wollte er es haben.

(hast du das)

Sie schuf ein Bild.

(noch nicht es ist Sonntag da hat kein Laden offen)

Ein weiteres Bild, bei dem er lächeln musste. Ein Walmart … nur dass das Schild über dem Eingang ABRA’S MEGAMARKT lautete.

(die würden uns sowieso nicht verkaufen was wir wollen aber wir finden bestimmt einen Laden der es tut)

(ja glaub schon)

(du weißt doch was du zu ihr sagen sollst)

(klar)

(sie wird versuchen dich in ein langes Gespräch zu verwickeln und herumzuschnüffeln lass das nicht zu)

(tu ich bestimmt nicht)

(melde dich gleich danach damit ich mir keine Sorgen mache)

Natürlich würde er sich massenhaft Sorgen machen.

(ja sicher hab dich lieb Onkel Dan)

(hab dich auch lieb)

Er malte einen Kuss. Abra sandte einen zurück: große, rote Comiclippen. Die spürte er fast auf seiner Wange. Dann war sie fort.

Billy starrte ihn an. »Du hast gerade mit ihr gesprochen, stimmt’s?«

»Ja, stimmt. Sieh auf die Straße.«

»Ja, ja. Du hörst dich an wie meine Exfrau.«

Billy betätigte den Blinker, wechselte auf die Überholspur und rollte an einem riesigen, schwerfälligen Wohnmobil vorbei, einem Fleetwood Pace Arrow. Während Dan es vorüberziehen sah, fragte er sich, wer wohl darin saß und ob jemand durch die getönten Scheiben spähte.

»Ich will noch etwa hundert Meilen schaffen, bevor wir uns aufs Ohr legen«, sagte Billy. »So wie ich die restliche Strecke berechnet hab, hast du dann morgen eine ganze Stunde Zeit für deinen Einkauf, und wir sind trotzdem zu dem Zeitpunkt in den Bergen, den ihr für den Showdown vorgesehen habt. Aber dafür müssen wir auf jeden Fall vor Tagesanbruch los.«

»Gut. Du hast doch verstanden, wie es laufen wird, oder?«

»Ich hab nur kapiert, wie es laufen soll.« Billy warf ihm einen kurzen Blick zu. »Hoffen wir doch mal, dass die uns nicht mit dem Fernglas beobachten, falls sie eins haben. Meinst du eigentlich, dass wir lebendig aus der ganzen Sache rauskommen? Sag mir die Wahrheit! Wenn die Antwort nein lautet, werde ich mir nämlich nachher das größte Steak aller Zeiten bestellen. Die letzte Rechnung kann Mastercard gern bei meinen Verwandten eintreiben, und weißt du was? Ich hab gar keine Verwandten. Falls du nicht meine Ex dazurechnest, und die würde keinen Finger für mich krumm machen.«

»Klar werden wir es überleben«, sagte Dan, aber das hörte sich ziemlich matt an. Er fühlte sich zu miserabel, als dass er eine tapfere Miene hätte aufsetzen können.

»Tatsächlich? Na, vielleicht bestelle ich mir trotzdem ein anständiges Steak. Was ist mit dir?«

»Ich glaube, ich könnte etwas Suppe runterbringen. Solange es sich um klare Brühe handelt.« Bei der Vorstellung nämlich, etwas zu essen, bei dem man nicht auf den Grund des Tellers sah – Tomaten- oder Champignoncremesuppe etwa –, zog sich sein Magen sofort wieder zusammen.

»Na gut. Wie wär’s, wenn du wieder die Augen zumachst?«

Dan wusste, dass er nicht tief schlafen konnte, egal wie erschöpft und krank er sich fühlte – nicht solange Abra mit dieser uralten Kreatur fertigwerden musste, die wie eine Frau aussah –, aber er schaffte es einzudösen. So seicht dieser Schlaf auch war, er brachte weitere Träume hervor, zuerst vom Overlook (nun ging es um den Aufzug, der sich mitten in der Nacht von selbst in Gang gesetzt hatte) und dann von seiner Nichte. Diesmal war Abra mit einem Stromkabel erdrosselt worden. Mit hervorquellenden, vorwurfsvollen Augen starrte sie Dan an. Es war nur allzu leicht zu erkennen, wie der Vorwurf lautete. Du hast gesagt, du wirst mir helfen. Du hast gesagt, du rettest mich. Wo warst du?

8

Abra schob das, was sie zu tun hatte, immer wieder auf, bis ihr klar wurde, dass ihre Mutter sie bald drängeln würde, sich schlafen zu legen. In die Schule würde sie morgen zwar nicht gehen, aber was sie erwartete, war ein großer Tag. Und vielleicht eine sehr lange Nacht.

Etwas aufzuschieben macht es nur schlimmer, cara mia.

Das war ein typischer Spruch von Momo. Abra blickte zum Fenster und wünschte sich, dort ihre Urgroßmutter zu sehen statt Rose. Das wäre schön gewesen.

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