Doctor Sleep - Страница 102


К оглавлению

102

»Ich weiß, dass es ein bisschen ungewöhnlich ist«, sagte Dan. »Aber es wäre nett, wenn Sie mir entgegenkommen. Ich zahle auch in bar.«

Er bekam, was er wollte. In kleinen, hoffnungslosen Läden abseits der großen Straßen wusste man Bargeld zu schätzen.

11

Als sie sich Denver näherten, nahm Dan Kontakt zu Abra auf. Er schloss die Augen und visualisierte das Rad, das sie nun beide kannten. Zu Hause in Anniston tat Abra dasselbe. Diesmal war es leichter. Als er die Augen wieder öffnete, blickte er über den abfallenden Garten der Stones auf den Saco River, der in der Nachmittagssonne glänzte. Abra wiederum sah die Rocky Mountains vor sich.

»Wow, Onkel Billy, das ist aber ein tolles Panorama, was?«

Billy warf einen Blick auf den Mann, der neben ihm saß. Dan hatte die Beine so gekreuzt, wie er es sonst nie tat, und wippte mit einem Fuß. Seine Wangen hatten wieder Farbe, und in seinen Augen lag eine helle Klarheit, die auf der Fahrt nach Westen nicht da gewesen war.

»Finde ich auch, Liebes«, stimmte Billy zu.

Dan lächelte und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, verblasste die gesunde Farbe, die Abra in sein Gesicht gebracht hatte. Wie eine Rose ohne Wasser, dachte Billy.

»Und?«

»Ping«, sagte Dan. Er lächelte, diesmal jedoch müde. »Wie ein Rauchmelder, bei dem die Batterie gewechselt werden muss.«

»Meinst du, sie haben es gehört?«

»Das will ich doch hoffen«, sagte Dan.

12

Rose schritt neben ihrem EarthCruiser auf und ab, als Token Charlie angerannt kam. Die Wahren hatten am Morgen Steam genommen, alle vorrätigen Flaschen bis auf eine, und zusammen mit dem, was Rose in den vergangenen Tagen allein inhaliert hatte, machte sie das so kribbelig, dass sie nicht einmal daran denken konnte, sich hinzusetzen.

»Was ist?«, fragte sie. »Hoffentlich was Gutes!«

»Ich hab sie erwischt! Na, ist das gut oder nicht?« Selber wie unter Strom stehend, packte Charlie Rose an den Armen und wirbelte sie herum, dass ihre Haare flogen. »Ich hab sie erwischt! Bloß ein paar Sekunden lang, aber sie war es!«

»Hast du den Onkel gesehen?«

»Nein, sie hat durch die Windschutzscheibe auf die Berge geschaut. Sie hat gesagt, das wäre ein tolles Panorama, und …«

»Ist es ja auch«, sagte Rose. Ein Grinsen trat auf ihre Lippen. »Meinst du nicht auch, Charlie?«

»… und er hat ihr zugestimmt. Sie kommen, Rosie! Sie kommen wirklich!«

»Hat sie gemerkt, dass du da warst?«

Er ließ sie los und runzelte die Stirn. »Da bin ich mir nicht so sicher … Grampa Flick hätte wahrscheinlich …«

»Sag mir einfach, was du denkst.«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Das reicht mir schon. Geh jetzt irgendwohin, wo es ruhig ist, damit du dich ungestört konzentrieren kannst. Setz dich hin und lausche. Gib mir Bescheid, sobald du sie wieder auffängst. Ich will vermeiden, dass wir ihre Spur verlieren. Wenn du mehr Steam brauchst, sag’s mir einfach. Ich hab ein bisschen aufgespart.«

»Nein, nein, ich hab genug. Ich werde lauschen. Und wie ich lauschen werde!« Token Charlie stieß ein wildes Lachen aus und lief davon. Offenbar hatte er keine Ahnung, wo er hinwollte, doch das war Rose egal. Solange er weiter lauschte.

13

Gegen Mittag hatten Dan und Billy die Ausläufer der Flatirons erreicht. Während Dan die Rocky Mountains näher kommen sah, dachte er an die vielen Jahre seiner Wanderschaft, in denen er ihnen ausgewichen war. Dabei fiel ihm ein Gedicht ein, in dem es darum ging, dass man Jahre damit verbringen konnte wegzulaufen, am Ende aber doch immer sich selbst gegenüberstand – in einem Hotelzimmer mit einer nackten Glühbirne an der Decke und einem Revolver auf dem Tisch.

Weil sie Zeit hatten, verließen sie die Schnellstraße und fuhren nach Boulder hinein. Billy war hungrig. Dan nicht … aber er war neugierig. Billy bog in den Parkplatz einer Subway-Filiale ein, doch als er Dan fragte, was er ihm mitbringen solle, schüttelte der nur den Kopf.

»Ehrlich? Du hast allerhand vor dir.«

»Ich esse was, wenn es vorbei ist.«

»Tja …«

Billy ging hinein, um sich ein Buffalo Chicken zu holen. Inzwischen nahm Dan Kontakt mit Abra auf. Das Rad drehte sich.

Ping.

Als Billy herauskam, deutete Dan mit dem Kinn auf das eingewickelte Sandwich. »Heb dir das noch ein paar Minuten auf. Da wir schon in Boulder sind, will ich mir was ansehen.«

Fünf Minuten später waren sie in der Arapahoe Street. Zwei Querstraßen von dem schäbigen kleinen Kneipenviertel entfernt forderte Dan Billy auf anzuhalten. »Jetzt kannst du reinhauen. Ich brauche nicht lange.«

Dan stieg aus, stellte sich auf den rissigen Gehweg und betrachtete einen vernachlässigten dreistöckigen Wohnblock. In einem Fenster hing ein Schild mit der Aufschrift EINZIMMERAPPARTEMENTS STUDENTEN WILLKOMMEN. Der Rasen vor dem Haus verkümmerte vor sich hin, in den Rissen des Gehwegs wucherte Unkraut. Er hatte bezweifelt, dass dieses Haus noch da sein würde, hatte erwartet, stattdessen eine Straße mit Eigentumswohnungen vorzufinden, bevölkert von wohlhabenden Yuppies, die Kaffee von Starbucks tranken, täglich ein halbes Dutzend Mal ihren Facebook-Account checkten und wie die Irren twitterten. Aber da war es, und es sah – soweit er das beurteilen konnte – noch genauso aus wie damals.

Billy trat mit dem Sandwich in der Hand zu ihm. »Wir haben noch fünfundsiebzig Meilen vor uns, Danno. Da sollten wir uns allmählich in Bewegung setzen.«

»Stimmt«, sagte Dan, ohne den Blick von dem Gebäude mit der abblätternden grünen Farbe abzuwenden. Hier hatte einmal ein kleiner Junge gelebt, und einmal hatte der genau auf dem Bordstein gehockt, auf dem nun Billy Freeman stand und sein Footlong-Sub mampfte. Ein kleiner Junge, der darauf wartete, dass sein Daddy von einem Einstellungsgespräch im Hotel Overlook zurückkehrte. Er hatte ein Modellflugzeug aus Balsaholz, der kleine Junge, aber ein Flügel war kaputt. Das machte nichts. Wenn sein Daddy heimkam, würde er den schon mit Klebeband und Leim reparieren. Dann würden sie das Flugzeug vielleicht zusammen segeln lassen. Sein Vater war ein Mensch gewesen, der einem Angst machen konnte, aber der kleine Junge hatte ihn sehr lieb gehabt.

»Hier hab ich mit meinen Eltern gewohnt, bevor wir ins Overlook gezogen sind«, sagte Dan. »Macht nicht viel her, was?«

Billy zuckte die Achseln. »Ich hab schon Schlimmeres gesehen.«

Während seiner Wanderjahre hatte Dan ebenfalls Schlimmeres gesehen. Die Wohnung von Deenie in Wilmington zum Beispiel.

Er deutete nach links. »In der Richtung waren ein paar Kneipen. Eine hieß Broken Drum. Sieht ganz so aus, als hätte man diese Gegend bei der Stadterneuerung vergessen, also ist sie vielleicht noch da. Wenn mein Vater mit mir daran vorbeiging, blieb er immer stehen, um ins Fenster zu schauen. Da konnte ich spüren, wie durstig er war und wie sehr er hineinwollte. So durstig, dass es mich auch durstig gemacht hat. Ich hab viele Jahre lang getrunken, um diesen Durst zu stillen, aber der legt sich nie vollständig. Das wusste mein Dad damals schon.«

»Trotzdem hast du ihn wohl gemocht, oder?«

»Ja, das stimmt.« Sein Blick lag immer noch auf dem schäbigen, heruntergekommenen Wohnblock. Der machte wirklich nicht viel her, aber Dan fragte sich, wie das Leben seiner kleinen Familie sich wohl entwickelt hätte, wenn sie dort geblieben wären. Wenn das Overlook sie nicht in die Falle gelockt hätte. »Er hatte gute und schlechte Seiten, und ich hab beide geliebt. Du lieber Himmel, ich glaube, das tue ich immer noch.«

»Wie die meisten Kinder«, sagte Billy. »Kinder lieben ihre Eltern und hoffen das Beste. Was bleibt ihnen denn sonst übrig? Komm jetzt, Dan. Wenn wir die Sache durchziehen wollen, müssen wir los.«

Eine halbe Stunde später lag Boulder hinter ihnen, und die Straße stieg steil an. Sie waren in den Rockies.

Kapitel neunzehn
GEISTERLEUTE

1

Es war kurz vor Sonnenuntergang – zumindest in New Hampshire –, aber Abra hockte immer noch auf der Treppe zum Garten und blickte auf den Fluss hinab. Hoppy saß in der Nähe auf dem Deckel des Komposters. Lucy und David kamen heraus und setzten sich links und rechts neben ihre Tochter. John Dalton beobachtete die drei mit einer Tasse kalten Kaffee in der Hand von der Küche aus. Seine schwarze Arzttasche stand auf einem Schränkchen, aber darin befand sich nichts, was er an diesem Abend hätte verwenden können.

»Du solltest reinkommen und was essen«, sagte Lucy, obwohl sie wusste, dass Abra das nicht tun würde, bis alles vorüber war. Wahrscheinlich konnte sie es gar nicht. Dennoch hielt man sich eben gern an das Bekannte. Weil alles normal aussah und weil die Gefahr mehr als tausend Meilen entfernt war, fiel ihr das leichter als ihrer Tochter. Bisher war Abras Gesichtshaut rein gewesen – so makellos wie in ihrer Zeit als Säugling –, aber nun blühte Akne neben den Nasenflügeln, und am Kinn hatte sie mehrere hässliche Pickel. Das lag wohl an dem veränderten Hormonhaushalt, der den Beginn der echten Pubertät ankündigte; jedenfalls hätte Lucy das gern geglaubt, weil es normal gewesen wäre. Aber Akne wurde auch durch Stress verursacht. Von Abras bleicher Haut und den dunklen Ringen unter ihren Augen ganz zu schweigen. Sie sah fast so krank aus wie Dan, als Lucy ihn zuletzt gesehen hatte. Da war er mit qualvoller Langsamkeit in Billy Freemans Pick-up gestiegen.

»Ich kann jetzt nichts essen, Mama. Keine Zeit. Wahrscheinlich könnte ich’s sowieso nicht drinbehalten.«

102