»Leg den Ellbogen an«, sagte Rose. »Den sehe ich. Bloß ein kleines Stückchen.«
Silent Sarey tat wie befohlen, und einen Moment lang war sie wirklich ganz verschwunden, zumindest bis Rose sich konzentrierte. Als sie das tat, war Sarey wieder da. Aber natürlich wusste sie, dass Sarey da war. Wenn es losging – und bis dahin dauerte es nicht mehr lange –, würde das kleine Aas bestimmt nichts sehen.
»Prima, Sarey!«, sagte sie warmherzig (beziehungsweise so nahe an warmherzig, wie sie das bewerkstelligen konnte). »Vielleicht brauche ich dich ja gar nicht. Falls doch, nimmst du die Sichel. Und wenn du das tust, denk an Andi. Alles klar?«
Als Andis Name fiel, verzog sich Sareys Mund zu einem tieftraurigen Flunsch. Nachdenklich starrte sie auf die Sichel in dem Plastikeimer und nickte.
Rose ging zum Schuppen und griff nach dem Vorhängeschloss. »Ich werde dich jetzt einsperren. Das kleine Aas wird die anderen wahrnehmen, die in der Lodge sind, aber dich nicht. Da bin ich mir sicher. Weil du eine ganz Stille bist. Ist doch so, oder?«
Wieder nickte Sarey. Ja, sie war eine ganz Stille, war sie immer schon gewesen.
(was ist mit dem)
Rose lächelte. »Mit dem Schloss? Mach dir darum keine Sorgen. Kümmere dich nur darum, still zu sein. Still und reglos. Hast du verstanden?«
»Lawoll.«
»Und du weißt auch, was du mit der Sichel machen sollst?« Eine Schusswaffe hätte Rose Sarey nicht anvertraut, selbst wenn der Wahre Knoten eine besessen hätte.
»Die Sischel. Lawoll.«
»Wenn ich das kleine Aas niederzwinge – und so voller Steam, wie ich es jetzt bin, sollte das kein Problem sein –, dann bleibst du da, wo du bist, bis ich dich herauslasse. Aber wenn du mich rufen hörst … mal überlegen … wenn du mich Sonst muss ich zu anderen Mitteln greifen rufen hörst, dann weißt du, dass ich Hilfe brauche. Ich sorge dafür, dass die Kleine dem Schuppen den Rücken zuwendet. Du weißt doch, was dann geschieht, oder?«
(ich steige die Treppe rauf und)
Aber Rose schüttelte den Kopf. »Nein, Sarey, das brauchst du nicht. Die Kleine wird nicht mal in die Nähe der Plattform da oben kommen.«
Den verfügbaren Steam zu verlieren wäre noch bedauerlicher gewesen, als die Chance zu verpassen, das kleine Aas eigenhändig zu töten … nachdem sie es ausgiebig hatte leiden lassen. Aber man durfte die Vorsicht nicht einfach über Bord werfen. Das Mädchen war tatsächlich sehr stark.
»Auf welchen Satz sollst du achten, Sarey?«
»Sonst muss ich su andelen Mitteln gleifen.«
»Und was wirst du dann denken?«
Die halb von dem zottigen Pony verborgenen Augen funkelten. »Lache!«
»Genau. Rache für Andi, die von den Freunden dieses kleinen Miststücks ermordet wurde. Aber erst wenn ich dich brauche, denn eigentlich will ich es selber tun.« Rose ballte so heftig die Fäuste, dass ihre Fingernägel sich in die tiefen, blutverkrusteten Wunden bohrten, die sie ihren Handflächen bereits zugefügt hatte. »Aber wenn ich dich brauche, dann kommst du. Zögere nicht, und lass dich von nichts aufhalten. Lass nicht locker, bis du der Kleinen die Sichel in den Hals gehackt hast und das spitze Ende aus ihrer verfluchten Kehle ragen siehst.«
Sareys Augen funkelten noch stärker. »Lawoll.«
»Gut.« Rose küsste sie, dann drückte sie die Tür zu und ließ das Vorhängeschloss zuschnappen. Sie steckte den Schlüssel in die Tasche und lehnte sich an die Tür. »Hör zu, Liebes. Wenn alles gut läuft, bekommst du den ersten Steam. Versprochen. Und es wird der beste sein, den du je hattest.«
Rose ging zurück zur Treppe und atmete mehrmals tief und ruhig durch, bevor sie die Stufen erklomm.
4
Dan stand da, die Hände auf einen der Picknicktische gestützt. Er hatte den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen.
»Es so zu machen ist einfach bekloppt«, sagte Billy. »Ich sollte mit dir mitgehen.«
»Das geht nicht. Schließlich hast du selbst eine Aufgabe zu erledigen.«
»Was, wenn du mitten auf dem Weg umkippst? Und selbst wenn das nicht passiert, wie willst du denn mit diesem ganzen Haufen fertigwerden? So, wie du gerade aussiehst, könntest du es nicht mal mit einem Fünfjährigen aufnehmen.«
»Ich glaube, ich werde mich bald wesentlich besser fühlen. Und stärker. Fahr los, Billy. Du weißt doch noch, wo du halten sollst?«
»Ganz am Ende vom Parkplatz an dem Schild, auf dem steht, dass alle Kinder umsonst was zu futtern kriegen, wenn eine Mannschaft aus Colorado gewonnen hat.«
»Korrekt.« Dan hob den Kopf und betrachtete die riesige Sonnenbrille, die Billy trug. »Zieh deine Mütze über den Kopf, so fest es geht. Bis zu den Ohren. Du musst jung aussehen.«
»Vielleicht hab ich einen Trick parat, mit dem ich noch jünger aussehe. Falls ich den überhaupt noch hinkriege.«
Dan hörte nur mit halbem Ohr zu. »Jetzt brauche ich noch eins.«
Er richtete sich auf und breitete die Arme aus. Billy hätte ihn am liebsten ganz fest an sich gedrückt, wagte es jedoch nicht. Deshalb umarmte er ihn behutsam.
»Abra hatte die richtige Ahnung – ohne dich wäre ich nie bis hierher gelangt«, sagte Dan. »Und jetzt mach’s gut!«
»Mach’s selber gut«, sagte Billy. »Ich zähle drauf, dass du an Thanksgiving bereitstehst, um die Riv zum Wolkentor zu steuern.«
»Mache ich gern«, sagte Dan. »Ist schließlich die beste Modelleisenbahn, die ich als Junge nie hatte.«
Billy sah ihm zu, wie er mit auf den Bauch gepressten Händen langsam zu dem Wegweiser am Ende der Lichtung ging. Dort waren zwei pfeilförmige Holzschilder angebracht. Das eine wies nach Westen zum nächsten Aussichtspunkt. Das andere wies in östlicher Richtung hangabwärts. Es trug die Aufschrift ZUM BLUEBELL CAMPGROUND.
Dan betrat den Wanderweg. Eine kleine Weile konnte Billy noch sehen, wie er langsam und unter Schmerzen durch die leuchtenden Blätter der Zitterpappeln ging, den Blick auf den Boden gerichtet, um nicht zu stolpern. Dann war er verschwunden.
»Pass gut auf meinen Jungen auf«, sagte Billy. Er war sich nicht sicher, ob er mit Gott oder mit Abra sprach. Das war wohl auch egal; wahrscheinlich waren beide an diesem Nachmittag zu beschäftigt, sich um Leute wie ihn zu kümmern.
Er ging zu seinem Pick-up zurück und holte ein Mädchen von der Ladefläche. Sie hatte starre, kobaltblaue Augen und steife, blonde Locken. Sie wog nicht viel; wahrscheinlich war sie innen hohl. »Na, wie geht’s, Abra? Bist hoffentlich nicht allzu sehr herumgekullert.«
Das Mädchen trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck COLORADO ROCKIES und blaue Shorts. Die Füße waren nackt, was völlig in Ordnung war. Da es sich um eine Schaufensterpuppe aus einem todgeweihten Kindermodeladen in Martenville handelte, war sie nie auch nur einen einzigen Schritt gegangen. Aber sie hatte bewegliche Knie, weshalb Billy sie problemlos auf den Beifahrersitz setzen konnte. Er schnallte sie an und wollte schon die Tür schließen, als ihm noch etwas einfiel. Als er den Kopf nach vorn drückte, bewegte sich der Hals, wenn auch nur ein kleines Stück. Er trat einen Schritt zurück, um die Wirkung zu begutachten. Nicht schlecht. So schien die Puppe etwas in ihrem Schoß zu betrachten. Oder um Kraft in dem nahenden Kampf zu beten. Gar nicht schlecht.
Vorausgesetzt, diese Typen hatten keine Ferngläser.
Billy stieg ein und wartete, um Dan genügend Zeit zu lassen. Falls der nicht auf dem Weg zum Campingplatz doch noch umgekippt war.
Um Viertel vor fünf ließ Billy den Motor an und bog in die Straße ein, die er heraufgekommen war.
5
Dan ging mit gleichmäßigen Schritten durch den Wald, obwohl die Hitze in seinem Bauch ständig zunahm. Es fühlte sich an, als hätte sich da drinnen eine Ratte eingenistet, die in Flammen stand und trotzdem eifrig an ihm nagte. Ginge der Weg nach oben statt nach unten, hätte er es vermutlich nicht geschafft.
Um zehn vor fünf kam er zu einer Biegung und blieb stehen. Ein kleines Stück weiter ging der Wald in einen grünen, gepflegten Rasenhang über, an dessen unterem Ende zwei Tennisplätze angelegt waren. Dahinter sah Dan die Wohnmobilstellplätze und ein langes Blockhaus: die Overlook Lodge. Jenseits davon stieg das Gelände wieder an. Dort, wo einst das Hotel Overlook gestanden hatte, erhob sich eine hohe, gerüstartige Plattform vor dem hellen Himmel. Das Dach der Welt. Während er es betrachtete, kam ihm derselbe Gedanke
(Galgen)
der Rose the Hat gekommen war. Am Geländer stand die Silhouette einer einzelnen Gestalt, die südwärts zum Parkplatz blickte. Eine Frau. Auf ihrem Kopf saß schräg ein Zylinder.
(Abra bist du da)
(ja bin ich)
Ihrer Stimme nach zu urteilen, war sie die Ruhe selbst. Genau so wollte er es haben.
(hören sie dich)
Das löste eine vage, kitzelnde Empfindung aus: ihr Lächeln. Das zornige.
(wenn die mich nicht hören sind sie taub)
Das genügte.
(du musst jetzt zu mir kommen aber denk dran wenn ich dir sage geh dann GEHST DU)
Sie antwortete nicht, und bevor er es ihr noch einmal sagen konnte, war sie da.
6
Die beiden Stones und John Dalton sahen hilflos zu, wie Abra zur Seite sank, bis sie mit dem Kopf auf den Bohlen der Treppe ruhte. Die Beine lagen gespreizt auf den Stufen darunter. Hoppy fiel aus ihrer erschlaffenden Hand. Sie sah nicht so aus, als würde sie schlafen oder wäre in Ohnmacht gefallen – so lag man da, wenn man bewusstlos oder tot war. Lucy wollte zu ihr stürzen, aber Dave und John hielten sie zurück.