Doctor Sleep - Страница 16


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Als der erste richtige Schnee kam, war es Abenddämmerung. Wir standen auf der Veranda des großen, alten, leeren Hotels, mein Dad in der Mitte, meine Mama auf einer Seite, ich auf der anderen. Er hatte die Arme um uns gelegt. Damals war alles in Ordnung. Damals trank er nicht. Zuerst fiel der Schnee vollkommen senkrecht herab, doch dann frischte der Wind auf und blies die Flocken zur Seite, sodass sie an die Seiten der Veranda trieben und diese …

Er versuchte, es abzublocken, aber es drang hindurch.

… diese Heckentiere bedeckten. Die sich manchmal bewegten, wenn man nicht hinsah.

Mit einer Gänsehaut auf den Armen wandte er sich vom Fenster ab. Er hatte sich im Red-Apple-Supermarkt ein Sandwich besorgt und vorgehabt, es zu verzehren, während er mit der Lektüre eines ebenfalls aus dem Supermarkt stammenden Taschenbuchs von John Sandford begann, doch nach wenigen Bissen wickelte er das Sandwich wieder ein und legte es aufs Fensterbrett, damit es kühl blieb. Vielleicht aß er den Rest später, obwohl er heute wahrscheinlich nicht viel länger als bis neun aufblieb; wenn er hundert Seiten von dem Buch schaffte, wäre das schon ein Wunder.

Draußen wehte der Wind immer stärker. Ab und zu stieß er am Giebel einen grausigen Schrei aus, bei dem Dan von seinem Buch aufblickte. Gegen halb neun begann Schnee zu fallen. Er war schwer und feucht, sodass er bald die Fensterscheiben bedeckte und den Blick auf die Berge verwehrte. In gewisser Hinsicht war das jetzt schon schlimmer. Auch im Overlook hatte der Schnee die Fenster bedeckt. Zuerst im Erdgeschoss … dann im ersten Stock … und schließlich auch im zweiten.

Dann waren sie mit den lebhaften Toten begraben gewesen.

Mein Vater dachte, die würden ihn zum Manager ernennen. Dafür müsse er nur seine Loyalität unter Beweis stellen. Indem er ihnen seinen Sohn auslieferte.

»Seinen einzigen Sohn«, murmelte Dan, dann sah er sich um, als hätte jemand andres gesprochen … und tatsächlich fühlte er sich nicht allein. Nicht ganz allein. Wieder fuhr der Wind heulend an der Seite des Hauses hinab, und Dan erschauerte.

Es ist noch nicht zu spät, um noch mal zum Supermarkt zu gehen. Und irgendeine Flasche zu holen. Um all diese unangenehmen Gedanken einzuschläfern.

Nein. Er würde sein Buch lesen. Lucas Davenport war auf der richtigen Spur, und er würde das Buch lesen.

Um Viertel nach neun klappte er es zu und stieg in sein neuestes gemietetes Bett. Ich kann bestimmt nicht einschlafen, dachte er. Nicht wenn der Wind derartig heult.

Er schlief dennoch ein.

10

Er hockte an der Mündung des Regenkanals und blickte über einen mit wildem Gras bewachsenen Hang auf den Cape Fear River und die Brücke hinab, die den Fluss überspannte. Die Nacht war klar, und der Mond war voll. Es ging kein Wind, es schneite nicht. Und das Hotel Overlook war verschwunden. Selbst wenn es nicht während der Amtszeit des Erdnussfarmerpräsidenten niedergebrannt wäre, wäre es über tausend Meilen weit entfernt gewesen. Weshalb hatte er dann solche Angst?

Weil er nicht allein war, deshalb. Jemand war hinter ihm.

»Willst du einen Rat, Honigbär?«

Es war eine perlende, bebende Stimme. Dan spürte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Noch kälter fühlten sich seine von Gänsehaut überzogenen Beine an. Er sah die weißlichen Erhebungen, weil er Shorts trug. Natürlich trug er Shorts. Sein Gehirn war zwar das eines erwachsenen Mannes, aber es saß momentan auf dem Körper eines fünfjährigen Jungen.

Honigbär. Wer …?

Aber er wusste es schon. Er hatte Deenie zwar seinen Namen verraten, doch den hatte sie nicht benutzt, sondern ihn stattdessen einfach Honigbär genannt.

Daran erinnerst du dich nicht, und außerdem ist dies nur ein Traum.

Natürlich war es ein Traum. Er war in Frazier, New Hampshire, und schlief, während um das Haus von Mrs. Robertson herum ein Schneesturm tobte. Dennoch kam es ihm klüger vor, sich nicht umzudrehen. Und sicherer.

»Ich brauche keinen Rat«, sagte er, während er weiter auf den Fluss und den Vollmond blickte. »Mich haben schon echte Experten beraten. Die Kneipen und Friseurläden sind voll davon.«

»Halt dich von der Frau mit dem Hut fern, Honigbär.«

Was für ein Hut?, hätte er fragen können, aber was hätte das gebracht? Er wusste, von welchem Hut sie sprach, weil er ihn über den Gehweg hatte rollen sehen. Von außen schwarz wie die Sünde, innen mit weißer Seide ausgekleidet.

»Die ist die Bienenkönigin vom Höllenschloss. Wenn du ihr in die Quere kommst, frisst sie dich bei lebendigem Leib.«

Er drehte den Kopf. Ganz automatisch. Hinter ihm hockte Deenie in der Kanalröhre, die Decke des Penners um ihre nackten Schultern gelegt. Die Haare klebten ihr an den Wangen. Ihr Gesicht war aufgebläht und tropfte. Ihre Augen waren trübe. Sie war tot; wahrscheinlich lag sie schon jahrelang in ihrem Grab.

Du bist nicht echt, versuchte Dan zu sagen, brachte jedoch kein Wort heraus. Er war wieder fünf, Danny war fünf, das Overlook war nur noch Asche und Knochen, aber da war eine tote Frau, eine, die er bestohlen hatte.

»Ist schon okay«, sagte sie. Aus der geschwollenen Kehle kam eine blubbernde Stimme. »Ich hab das Koks verscherbelt. Hab es erst mit etwas Zucker gestreckt und dann zweihundert dafür bekommen.« Sie grinste, und Wasser drang durch ihre Zähne. »Ich hab dich gemocht, Honigbär. Deshalb bin ich gekommen, um dich zu warnen. Halt dich von der Frau mit dem Hut fern.«

»Falsches Gesicht«, sagte Dan … aber es war Dannys Stimme, die hohe, zarte, singende Stimme eines Kindes. »Falsches Gesicht, nicht da, nicht echt.«

Er schloss die Augen, wie er es oft getan hatte, wenn ihm im Overlook schreckliche Dinge in den Blick gekommen waren. Die Frau begann zu schreien, aber er weigerte sich, die Augen zu öffnen. Abwechselnd lauter und leiser werdend, ging das Schreien weiter, und er merkte, dass es das Heulen des Windes war. Er war nicht in Colorado, und er war nicht in North Carolina. Er war in New Hampshire. Er hatte einen Albtraum gehabt, doch nun war der Traum vorbei.

11

Laut seiner Timex war es zwei Uhr morgens. Im Zimmer war es kalt, aber seine Arme und seine Brust waren vor Schweiß ganz schlüpfrig.

Willst du einen Rat, Honigbär?

»Nein«, sagte er. »Nicht von dir.«

Sie ist tot.

Eigentlich konnte er das nicht wissen, und doch wusste er es. Deenie – die in ihrem kurzen Lederrock und ihren Korksandaletten wie die Göttin des Westens ausgesehen hatte – war tot. Er wusste sogar, wie sie das angestellt hatte. Sie hatte Pillen geschluckt und sich die Haare hochgesteckt. Dann war sie in die mit warmem Wasser gefüllte Badewanne gestiegen, eingeschlafen, untergegangen und ertrunken.

Das Brüllen des Windes klang furchtbar vertraut und voll hohler Drohungen. Der Wind wehte überall, aber nur in den Bergen hörte er sich so an. Es war, als schlüge ein zorniger Gott mit einem Lufthammer auf die Welt ein.

Ich hab seinen Schnaps immer als das schlechte Zeug bezeichnet, dachte Dan. Nur ist es manchmal gutes Zeugs. Wenn man aus einem Albtraum erwacht und weiß, dass der zu mindestens fünfzig Prozent aus Shining bestanden hat, ist es sogar sehr gutes Zeugs.

Ein Glas würde ihn wieder einschlafen lassen. Drei würden nicht nur für Schlaf, sondern für traumlosen Schlaf sorgen. Schlaf war das Heilmittel der Natur, und momentan fühlte Dan Torrance sich krank und brauchte eine starke Medizin.

Jetzt hat kein Laden mehr geöffnet. Da hast du Glück gehabt.

Na ja. Vielleicht.

Er drehte sich auf die Seite, und dabei stieß etwas an seinen Rücken. Nein, nicht etwas. Jemand. Jemand war zu ihm ins Bett gestiegen. Deenie war zu ihm ins Bett gestiegen. Allerdings fühlte es sich zu klein an, als dass es Deenie war. Es fühlte sich eher an wie ein …

Er sprang aus dem Bett, landete unbeholfen auf dem Boden und blickte über die Schulter. Es war Deenies kleiner Sohn Tommy. Die rechte Schädelseite war eingeschlagen. Durch das blonde, mit Blut befleckte Haar ragten Knochensplitter. Graue, schuppige Schmiere – Gehirn – trocknete auf der Wange. Mit einer so fürchterlichen Wunde konnte er nicht mehr am Leben sein, aber er war es. Mit seiner Seesternhand griff er nach Dan.

»Zucka«, sagte er.

Wieder setzten die Schreie ein, doch diesmal war es nicht Deenie, und es war auch nicht der Wind.

Diesmal war Dan es selbst.

12

Als er zum zweiten Mal erwachte – diesmal wachte er wirklich auf –, schrie er jedoch nicht. Tief in seiner Brust breitete sich nur ein leises Knurren aus. Keuchend setzte er sich auf, die Decke um die Taille geschlungen. Außer ihm war niemand im Bett, aber der Traum hatte sich noch nicht aufgelöst, und zu sehen, dass niemand da war, reichte nicht aus. Er schlug die Decke zurück, aber das reichte immer noch nicht aus. Er strich mit den Händen über das Laken und suchte nach verbliebener Wärme oder einer Vertiefung, die kleine Hüften und Pobacken hätten hinterlassen können. Nichts. Natürlich nicht. Also spähte er unters Bett, wo er aber nur seine geliehenen Stiefel sah.

Der Wind wehte jetzt weniger stark. Noch war der Sturm nicht vorüber, aber er nahm allmählich ab.

Dan ging aufs Badezimmer zu, fuhr jedoch unterwegs herum und blickte zurück, als erwartete er, jemand zu überraschen. Da stand nur das Bett, an dessen Fußende die Decke auf dem Boden lag. Er knipste das Licht über dem Waschbecken an, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und setzte sich auf den heruntergeklappten Klodeckel, wo er tiefe Atemzüge machte, einen nach dem anderen. Er überlegte, ob er aufstehen und sich eine Zigarette aus der Packung holen sollte, die neben seinem Buch auf dem einzigen kleinen Tisch des Zimmers lag, aber seine Beine fühlten sich wie aus Gummi an, und er war sich nicht sicher, ob sie ihn tragen konnten. Jetzt bestimmt noch nicht. Daher blieb er sitzen. Er konnte das Bett sehen, und das Bett war leer. Das ganze Zimmer war leer. Keinerlei Problem mehr.

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