Nur … es fühlte sich nicht leer an. Noch nicht. Wenn es so weit war, würde er wohl wieder ins Bett gehen. Aber nicht, um einzuschlafen. Für diese Nacht war es mit dem Schlafen vorbei.
13
In Tulsa hatte Dan sieben Jahre zuvor in einem Hospiz als Pfleger gearbeitet und sich dabei mit einem alten Psychiater namens Emil Kemmer angefreundet, der an Leberkrebs im Endstadium litt. Als Kemmer eines Tages (nicht sehr diskret) von einigen interessanten Fällen aus seiner Praxis erzählt hatte, hatte Dan gestanden, dass er seit seiner Kindheit mit etwas kämpfe, was er als doppeltes Träumen bezeichne. Ob Kemmer mit diesem Phänomen vertraut sei? Ob es einen Namen dafür gebe?
In seinen besten Jahren war Kemmer eine imposante Erscheinung gewesen – davon zeugte das alte Schwarz-Weiß-Foto von seiner Hochzeit, das auf seinem Nachttisch stand –, aber Krebs war nur einmal das ultimative Diätprogramm, und am Tag dieses Gesprächs hatte er etwa halb so viele Kilo Gewicht am Leib gehabt wie Jahre auf dem Buckel, und er war einundneunzig. Sein Verstand war jedoch immer noch scharf, und während Dan nun auf dem Toilettendeckel saß und dem nachlassenden Sturm draußen lauschte, erinnerte er sich an das listige Lächeln des alten Mannes.
»Normalerweise werde ich für meine Diagnosen bezahlt, Daniel«, hatte der mit seinem starken deutschen Akzent gesagt.
Dan hatte gegrinst. »Dann hab ich wohl Pech gehabt.«
»Mal sehen.« Kemmer betrachtete Dan. Seine Augen waren strahlend blau. Obwohl Dan wusste, dass es ausgesprochen unfair war, konnte er nicht umhin, sich diese Augen unter einem Stahlhelm der Waffen-SS vorzustellen. »In diesem Haus des Todes geht das Gerücht, Sie hätten die Gabe, den Leuten beim Sterben helfen zu können. Stimmt das?«
»Manchmal«, sagte Dan vorsichtig. »Nicht immer.« Die Wahrheit lautete: Fast immer.
»Werden Sie auch mir helfen, wenn es so weit ist?«
»Wenn ich kann, natürlich.«
»Gut.« Kemmer setzte sich auf, ein mühevoller und schmerzhafter Vorgang, doch als Dan ihm helfen wollte, wehrte er ihn mit einer Handbewegung ab. »Was Sie als doppeltes Träumen bezeichnen, ist in der Psychiatrie wohlbekannt. Von besonderem Interesse ist es für die Jungianer, die es falsches Erwachen nennen. Der erste Traum ist üblicherweise ein luzider Traum, das heißt, der Träumer weiß, dass er träumt …«
»Ja!«, rief Dan. »Aber der zweite …«
»Der Träumer glaubt, wach zu sein«, sagte Kemmer. »Jung hat viel Wind darum gemacht und solchen Träumen sogar präkognitive Kräfte zugeschrieben … aber das wissen wir natürlich besser, nicht wahr, Dan?«
»Natürlich«, hatte Dan zugestimmt.
»Der Dichter Edgar Allan Poe hat das Phänomen des falschen Erwachens schon lange vor der Geburt von C. G. Jung beschrieben. Er schrieb: ›Ist, was wir scheinen oder schaun, doch nur ein Traum in einem Traum?‹ Habe ich Ihre Frage beantwortet?«
»Ich glaube schon. Danke.«
»Gern geschehen. Und jetzt, glaube ich, könnte ich ein wenig Saft vertragen. Apfelsaft, bitte.«
14
Präkognitive Kräfte … aber das wissen wir natürlich besser.
Selbst wenn er sein Shining nicht über die Jahre hinweg verschwiegen hätte, wenige Personen ausgenommen, hätte er sich nicht erdreistet, einem Sterbenden zu widersprechen … vor allem nicht, wenn der so kühl forschende blaue Augen hatte. In Wahrheit waren seine doppelten Träume durchaus oft prophetischer Natur, meist jedoch so, dass er es nur halb oder überhaupt nicht begriff. Während er nun in Unterwäsche auf dem Klodeckel saß und zitterte (nicht nur weil es kalt im Raum war), begriff er allerdings wesentlich mehr, als er wollte.
Tommy war tot. Wahrscheinlich ermordet von seinem brutalen Onkel. Seine Mutter hatte nicht lange danach Selbstmord begangen. Was den Rest des Traumes anging … und den Phantomhut, den er am vergangenen Tag über den Gehweg hatte rollen sehen …
Halt dich von der Frau mit dem Hut fern. Die ist die Bienenkönigin vom Höllenschloss.
»Das ist mir schnuppe«, sagte Dan.
Wenn du ihr in die Quere kommst, frisst sie dich bei lebendigem Leib.
Er hatte nicht die Absicht, dieser Frau zu begegnen, geschweige denn, ihr in die Quere zu kommen. Was Deenie anging, war er weder für ihren unbeherrschten Bruder noch dafür verantwortlich, dass sie ihr Kind vernachlässigt hatte. Er musste nicht einmal mehr die Schuldgefühle wegen ihren lausigen siebzig Dollar mit sich herumschleppen; sie hatte das Kokain verkauft – dieser Teil des Traums traf hundertprozentig zu, da war er sich sicher –, und damit waren sie quitt. Mehr als quitt eigentlich.
Ihn interessierte jetzt nur eines: etwas zu trinken zu bekommen. Genauer gesagt sich zu besaufen. So stockbesoffen zu sein, dass er gleich wieder auf die Schnauze fiel, wenn er aufstand. Die warme Morgensonne tat gut, ebenso gut fühlte es sich an, die Muskeln richtig zu gebrauchen und morgens ohne Kater aufzuwachen, der Preis jedoch – all die verrückten Träume und Visionen, dazu die zufälligen Gedanken irgendwelcher Fremder, die manchmal seine Abwehr überwanden – war zu hoch.
Unerträglich hoch.
15
Er saß in dem einzigen Sessel des Zimmers und las im Licht der einzigen Lampe in dem Roman von John Sandford, bis die beiden mit Glocken ausgestatteten Kirchen der Stadt sieben Uhr läuteten. Dann zog er die neuen Stiefel an (neu für ihn jedenfalls), schlüpfte in seinen Dufflecoat und trat hinaus in eine Welt, die sich verändert hatte und weicher geworden war. Nirgendwo sah man eine scharfe Kante. Immer noch fiel Schnee, nun aber sanft.
Ich sollte hier abhauen. Nach Florida zurückkehren. Scheiß auf New Hampshire, wo es in ungeraden Jahren wahrscheinlich selbst am vierten Juli schneit.
Halloranns Stimme antwortete ihm. Der Ton war so freundlich wie damals in seiner Kindheit, als Dan noch Danny gewesen war, doch darunter verbarg sich harter Stahl. Du solltest mal irgendwo eine Weile bleiben, Junge, sonst wirst du nirgendwo mehr bleiben können.
»Du kannst mich mal, Alter«, murmelte Dan.
Er ging wieder in den Supermarkt, weil die Läden, in denen Hochprozentiges zu haben war, erst frühestens in einer Stunde öffneten. Langsam marschierte er zwischen den Kühlregalen mit Wein und Bier hin und her, wog das Für und Wider ab und kam schließlich zu einem Entschluss: Wenn er sich schon besaufen wollte, dann konnte er das auch so garstig wie möglich tun. Daher griff er sich zwei Flaschen Thunderbird (achtzehn Prozent Alkohol, ein guter Kompromiss, wenn Whiskey vorübergehend außer Reichweite war) und ging schon durch den Gang auf die Kasse zu, als er wieder stehen blieb.
Wart noch einen Tag. Gib dir noch eine Chance.
Das schaffte er wahrscheinlich sogar, aber wozu? Damit er wieder mit Tommy im Bett aufwachen konnte? Mit Tommy, dessen halber Schädel eingeschlagen war? Vielleicht war es beim nächsten Mal auch Deenie, die zwei Tage in der Wanne gelegen hatte, bis der Hausmeister es sattgehabt hatte zu klopfen, seinen Generalschlüssel gezückt und sie entdeckt hatte. Das konnte Dan zwar eigentlich gar nicht wissen, was Emil Kemmer – wäre er da gewesen – nachdrücklich bestätigt hätte, aber er wusste es trotzdem. Er wusste es. Warum sollte er sich also die Mühe machen?
Vielleicht geht diese übersteigerte Wahrnehmung vorüber. Vielleicht ist es nur eine Phase, ein übersinnliches Pendant von Delirium tremens. Vielleicht musst du dir nur noch etwas Zeit lassen …
Aber die Zeit war veränderlich. Das war etwas, was nur Säufer und Junkies begriffen. Wenn man nicht einschlafen konnte, wenn man wegen dem, was man womöglich sah, Angst hatte, sich umzublicken, dann dehnte die Zeit sich in die Länge und bekam scharfe Zähne.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Kassierer, und Dan wusste
(verfluchtes Shining verfluchtes Ding)
dass er ihn nervös machte. Kein Wunder. Mit seinem verstrubbelten Kopf, seinen dunklen Augenringen und seinen ruckartigen, unsicheren Bewegungen sah er wahrscheinlich wie ein Meth-Süchtiger aus, der überlegte, ob er seine treue Pistole ziehen und den Gesamtinhalt der Kasse verlangen sollte.
»Nein«, sagte Dan. »Ich hab nur gerade gemerkt, dass ich mein Portemonnaie zu Hause liegen lassen habe.«
Er stellte die grünen Flaschen ins Kühlregal zurück. Als er die Tür zumachte, sprachen sie so freundlich zu ihm, wie zwei Freunde zueinander sprachen: Bis bald, Danny.
16
Billy Freeman erwartete ihn, bis zu den Augenbrauen eingepackt. Er streckte ihm eine altmodische Skimütze hin, auf die vorn der Schriftzug ANNISTON CYCLONES gestickt war.
»Wer zum Teufel sind die Anniston Cyclones?«, fragte Dan.
»Anniston liegt zwanzig Meilen nördlich von hier. Wenn’s um Football, Basketball und Baseball geht, sind die unsere Erzrivalen. Falls dich jemand mit dem Ding sieht, kriegst du wahrscheinlich einen Schneeball an den Schädel, aber es ist die einzige Mütze, die ich habe.«
Dan setzte sie auf. »Na, dann: Auf geht’s, Cyclones!«
»Genau, immer ran an die Braut!« Billy musterte ihn. »Geht’s dir nicht gut, Danno?«
»Hab heute Nacht nicht viel geschlafen.«
»Kein Wunder. Der verfluchte Wind hat richtig gekreischt, was? Hat sich angehört wie meine Ex, wenn ich gemeint hab, am Samstagabend könnten wir mal wieder miteinander kuscheln. Na, bereit, ans Werk zu gehen?«
»Auf jeden Fall.«
»Gut. Legen wir los. Das wird ein verflucht harter Tag.«
17
Es war tatsächlich ein verflucht harter Tag, aber gegen Mittag war die Sonne herausgekommen, und die Temperatur war wieder auf über zehn Grad Celsius gestiegen. Teenytown war vom Rauschen hundert kleiner Wasserfälle erfüllt, während der Schnee schmolz. Dans Laune stieg mit der Temperatur, und er erwischte sich sogar beim Singen (»Young man! I was once in your shoes!«), während er auf dem Hof des kleinen Einkaufszentrums neben dem Stadtpark hinter seiner Schneefräse hermarschierte. In der sanften Brise, die nichts mehr mit dem kreischenden Wind der vergangenen Nacht gemein hatte, flatterte über ihm ein Banner mit der Aufschrift FRÜHLINGSSCHNÄPPCHEN OHNE ENDE ZU TEENYTOWN-PREISEN!