Doctor Sleep - Страница 28


К оглавлению

28

»Na, das ist aber prima, Schatz«, sagte Mysterio, ohne den Einwurf richtig zu beachten. Das konnte man ihm nicht übel nehmen, schließlich hatte er gerade eine erstklassige Kindershow hingelegt. Trotz der kühlen Brise, die vom Fluss heraufzog, war sein Gesicht rot und verschwitzt, und er hatte noch seinen großen Abgang vor sich, bei dem er mit seinem Riesendreirad den Hang hinauffahren musste.

Er beugte sich zu Abra und tätschelte ihr mit seinem weißen Handschuh den Kopf. »Alles Gute zum Geburtstag! Und danke, liebe Kinder, dass ihr so ein tolles Pub…«

Im Inneren des Hauses ertönte ein lautes, musikalisches Klirren, ganz ähnlich wie der Klang der Glöckchen, die am Lenker des Godzilla-Dreirads hingen. Die Kinder warfen nur einen kurzen Blick in die Richtung, aus der das Geräusch kam, dann drehten sie sich wieder um und beobachteten, wie Mysterio davonfuhr. Lucy hingegen stand auf, um nachzusehen, was da wohl in der Küche umgefallen war.

Zwei Minuten später kam sie wieder in den Garten. »John, sehen Sie sich das mal an«, sagte sie. »Ich glaube, darauf haben Sie gewartet.«

12

John, Lucy und Concetta standen in der Küche und blickten schweigend an die Decke. Keiner der drei drehte sich um, als David zu ihnen stieß; sie waren regelrecht hypnotisiert. »Was ist …«, fing er an, dann sah er, was war. »Heiliger Bimbam!«

Darauf erhielt er keine Antwort. David starrte noch ein wenig länger hin und versuchte zu begreifen, was er da sah, dann verschwand er wieder. Als er wenig später zurückkam, hatte er seine Tochter an der Hand. Abra hielt einen Luftballon. Sie hatte den von Mysterio stammenden Schal wie eine Schärpe um die Taille geschlungen.

John Dalton ließ sich neben ihr auf ein Knie nieder. »Warst du das, Schatz?« Das war eine Frage, deren Antwort sie sicherlich kannte, aber er wollte hören, was sie zu sagen hatte. Wie viel war ihr wohl bewusst?

Zuerst blickte Abra auf den Boden, wo die Besteckschublade lag. Einige der Messer und Gabeln waren herausgehüpft, als die Schublade aus ihrer Führung geschossen war, aber die lagen alle daneben. Die Löffel hingegen nicht. Die hingen an der Decke, als würden sie von irgendeiner exotischen magnetischen Kraft angezogen. Einige schaukelten träge an den Deckenlampen. Der größte, ein Servierlöffel, baumelte an der Dunstabzugshaube über dem Herd.

Alle Kinder besaßen ihren eigenen Mechanismus, sich zu beruhigen. Aus Erfahrung wusste John, dass das meistens ein fest im Mund verankerter Daumen war. Abras Mechanismus war ein wenig anders. Sie legte die rechte Hand über die untere Hälfte ihres Gesichts und rieb sich mit der Handfläche über die Lippen. Als sie antwortete, waren ihre Worte daher unverständlich. John zog ihr behutsam die Hand weg. »Was sagst du, Schatz?«

»Ist das schlimm?«, sagte sie leise. »Ich … ich …« Ihre kleine Brust begann zu zittern. Sie versuchte, die beruhigende Hand wieder über den Mund zu legen, aber John hielt sie fest. »Ich wollte bloß wie Miastrosio sein.« Sie begann zu weinen. John ließ ihre Hand los, die sie sofort wieder über den Mund legte, um hektisch daran zu reiben.

David nahm sie hoch und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Lucy schlang die Arme um beide und küsste ihre Tochter auf den Scheitel. »Nein, Schatz, nein. Das ist überhaupt nicht schlimm. Alles in Ordnung.«

Abra vergrub das Gesicht am Hals ihrer Mutter. Als sie das tat, fielen die Löffel herab. Das Geklapper ließ alle zusammenzucken.

13

Zwei Monate später, als der Sommer Einzug in die White Mountains von New Hampshire hielt, saßen David und Lucy Stone in John Daltons Sprechzimmer, dessen Wände mit den Fotos lächelnder Kinder gepflastert waren. Im Lauf der Jahre hatte er sie alle behandelt, und viele von ihnen waren inzwischen alt genug, selber Kinder zu haben.

»Ich hab einen Neffen, der sich gut mit dem Internet auskennt, und den hab ich beauftragt festzustellen, ob Fälle wie der Ihrer Tochter dokumentiert sind, und gegebenenfalls eingehender zu recherchieren. Keine Angst, er verlangt nicht viel, außerdem geht das auf meine Kappe. Er hat sich bei seiner Suche auf die letzten dreißig Jahre beschränkt und über neunhundert Fälle gefunden.«

David stieß einen Pfiff aus. »So viele!«

John schüttelte den Kopf. »So viele sind das nicht. Wenn es sich um eine Krankheit handeln würde – und davon müssen wir nicht noch mal anfangen, weil es keine ist –, dann wäre sie so selten wie Elephantiasis. Oder wie die Blaschko-Linien, bei denen die Erkrankten sich sozusagen in ein menschliches Zebra verwandeln. Davon ist etwa einer von sieben Millionen Menschen betroffen. Das, was Abra hat, fiele in diese Kategorie.«

»Und was genau ist das, was Abra hat?« Lucy hatte die Hand ihres Mannes ergriffen und hielt sie fest umklammert. »Telepathie? Telekinese? Irgendwas anderes mit Tele?«

»Diese Phänomene spielen eindeutig eine Rolle. Ist sie telepathisch veranlagt? Da sie vorab weiß, wenn jemand zu Besuch kommt, und da sie gespürt hat, dass diese Nachbarin von der Leiter gefallen ist, trifft das offenbar zu. Hat sie telekinetische Fähigkeiten? Nach dem, was ich bei ihrer Geburtstagsparty in der Küche gesehen habe, eindeutig ja. Ist sie medial veranlagt? Eine Hellseherin, um es etwas flotter zu formulieren? Das ist nicht ganz so eindeutig, wenngleich die Sache mit dem Zwanzigdollarschein hinter der Kommode darauf hinweist. Aber was ist mit dem Abend, an dem in Ihrem Fernseher auf allen Sendern die Simpsons liefen? Wie soll man so was nennen? Und was ist mit der mysteriösen Beatles-Melodie? Wenn die Töne aus dem Klavier gekommen wären, könnte man von Telekinese sprechen … aber Sie haben gesagt, das sei nicht der Fall gewesen.«

»Und was nun?«, fragte Lucy. »Worauf sollen wir achten?«

»Das weiß ich auch nicht. Es gibt keine erprobte Prozedur, der wir folgen könnten. Das Problem mit übersinnlichen Phänomenen ist, dass es sich um kein richtiges Forschungsgebiet handelt. Da gibt es zu viel Scharlatanerie und zu viele Leute, die nicht alle Tassen im Schrank haben.«

»Das heißt, langer Rede kurzer Sinn, Sie können uns nicht sagen, was wir tun sollen«, stellte Lucy fest.

John grinste. »Ich kann Ihnen genau sagen, was Sie tun sollen: Abra weiterhin liebhaben. Wenn mein Neffe recht hat – aber vergessen Sie nicht, dass er a) erst siebzehn ist und b) seine Schlussfolgerungen auf unsicheren Daten beruhen –, dann werden Sie wahrscheinlich noch allerhand erleben, bis Abra zum Teenager wird. Manches davon wird ziemlich krass sein. Im Alter von dreizehn bis vierzehn Jahren wird das einen Höhepunkt erreichen und dann allmählich abnehmen. Wenn Abra zwanzig ist, werden die verschiedenen Phänomene, die sie verursacht, wahrscheinlich nur noch belangloser Natur sein.« Wieder grinste er. »Aber sie wird ihr ganzes Leben lang fantastisch Poker spielen können.«

»Was ist, wenn sie tote Menschen sieht wie der kleine Junge in diesem Film?«, fragte Lucy. »Was tun wir dann?«

»Dann werden Sie wohl einen Beweis dafür haben, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Machen Sie sich einstweilen bitte keine Sorgen. Und halten Sie dicht, ja?«

»Oh, darauf können Sie sich verlassen«, sagte Lucy. Sie brachte ein Lächeln zustande, aber da sie sich den Großteil ihres Lippenstifts abgekaut hatte, sah es nicht besonders zuversichtlich aus. »Schließlich wollen wir definitiv nicht, dass unsere Tochter auf dem Titel vom Inside View landet.«

»Gott sei Dank hat das mit den Löffeln niemand von den anderen Eltern gesehen«, sagte David.

»Ich habe eine Frage«, sagte John. »Meinen Sie, Abra weiß, wie besonders sie ist?«

Die Stones tauschten einen Blick.

»Also, ich glaube … nicht«, sagte Lucy schließlich. »Obwohl wir um die Sache mit den Löffeln ja ein ziemliches Theater gemacht haben.«

»Den Eindruck haben Sie vielleicht, aber auf Abra hat es wahrscheinlich nicht so gewirkt«, sagte John. »Sie hat ein bisschen geweint, aber als sie in den Garten gegangen ist, hatte sie schon wieder ein Lächeln auf dem Gesicht. Sie haben sie ja nicht angebrüllt, getadelt oder gar verprügelt. Ich würde Ihnen raten, es vorläufig einfach laufen zu lassen. Wenn Abra etwas älter ist, können Sie sie davor warnen, ihre Tricks in der Schule vorzuführen. Abgesehen davon sollten Sie sie ganz normal behandeln, weil sie das ja hauptsächlich ist. Stimmt’s?«

»Stimmt«, sagte David. »Sie hat keine Flecke, Beulen oder ein drittes Auge.«

»Doch, das hat sie«, sagte Lucy. Ihr war die Glückshaube eingefallen. »Ein drittes Auge hat sie auf jeden Fall. Man kann es zwar nicht sehen … aber es ist da.«

John erhob sich. »Ich werde meinem Neffen sagen, er soll mir alles ausdrucken, damit ich es Ihnen schicken kann, wenn Sie wollen.«

»Natürlich«, sagte David. »Auf jeden Fall. Unsere liebe, alte Momo will es bestimmt auch sehen.« Bei diesen Worten rümpfte er leicht die Nase. Lucy sah es und runzelte die Stirn.

»Ansonsten sollten Sie sich einfach über Ihre Tochter freuen«, sagte John. »Nach allem, was ich mitbekommen habe, ist sie ein sehr liebes Kind. Das andere geht vorbei.«

Eine Weile hatte es sogar den Anschein, als würde er recht behalten.

Kapitel vier
EIN AUFTRAG FÜR DOCTOR SLEEP

1

Es war Januar 2007. Im Turmzimmer des Hospizes lief Dans Heizgerät auf Hochtouren, aber es war trotzdem kalt. Ein Nordostwind mit Orkanböen war von den Bergen herabgeweht und hatte pro Stunde fünfzehn Zentimeter Schnee auf das schlafende Frazier abgeladen. Als der Sturm am folgenden Nachmittag endlich nachließ, waren die Schneewehen, die sich an der Nord- und Ostseite der Gebäude an der Cranmore Avenue auftürmten, vier Meter hoch.

28