Doctor Sleep - Страница 30


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»Keine Blutungen?«

Carling hob die massigen Schultern. »Na ja, ein bisschen Nasenbluten hatte er schon. Ich hab die blutigen Handtücher in ’nen Seuchensack gesteckt, genau nach Vorschrift. Sie sind in Wäschekammer A, falls du sie dir anschauen willst.«

Dan wollte schon fragen, wie man ein Nasenbluten, für das man mehr als ein Handtuch brauchte, mit »ein bisschen« charakterisieren konnte, verzichtete jedoch darauf. Carling war ein gefühlloser Trottel, und wie er hier einen Job ergattert hatte – selbst für die Nachtschicht, wenn die meisten Gäste entweder schliefen oder versuchten, sich so ruhig zu verhalten, dass sie niemand störten –, war Dan völlig schleierhaft. Wahrscheinlich hatte irgendjemand ein paar Strippen gezogen. So lief es eben. Hatte nicht sein eigener Vater dasselbe getan, um seine letzte Stelle zu bekommen – als Hausmeister im Hotel Overlook? Das war zwar kein eindeutiger Beweis dafür, dass Beziehungen nicht die beste Methode waren, einen Job an Land zu ziehen, aber es ließ zumindest darauf schließen.

»Schönen Abend, Doctor Sleeeep«, rief Carling ihm noch hinterher, ohne sich groß die Mühe zu machen, die Stimme zu dämpfen.

Im Stationszimmer arbeitete Claudette an der Liste für die Medikamentenverteilung, während Janice Barker vor einem kleinen, leise gestellten Fernseher saß. Auf dem Bildschirm flimmerte eine Dauerwerbesendung mit einem endlosen Infomercial zum Thema Darmreinigung, das Janice mit großen Augen und halb offenem Mund betrachtete. Als Dan mit den Fingernägeln auf die Theke trommelte, fuhr sie auf, was bedeutete, dass sie nicht gebannt ferngesehen, sondern vor sich hin gedämmert hatte.

»Kann eine von euch beiden mir was Substanzielles über Charlie sagen? Carling hat nämlich keine Ahnung.«

Claudette warf einen Blick in den Flur, um sich zu vergewissern, dass Fred Carling nicht in Sicht war, dann senkte sie zur Sicherheit zudem die Stimme. »Dieser Typ ist so unnütz wie ein Kropf. Ich hoffe immer noch, dass man ihn irgendwann rausschmeißt.«

Dan war derselben Meinung, behielt diese jedoch für sich. Wie er herausgefunden hatte, förderte konsequente Nüchternheit die Fähigkeit zur Diskretion ungemein.

»Ich hab vor einer Viertelstunde nach Charlie gesehen«, sagte Janice. »Das tun wir bei den Gästen oft, wenn unser Kater zu Besuch kommt.«

»Wie lange ist Azzie schon im Zimmer?«

»Er saß miauend vor der Tür, als wir um Mitternacht zum Dienst gekommen sind«, sagte Claudette. »Ich hab ihm aufgemacht, und er ist sofort aufs Bett gesprungen. Du weißt ja, wie das läuft. Fast hätte ich dich da schon angerufen, aber Charlie war wach und ansprechbar. Als ich ihn begrüßt hab, hat er den Gruß erwidert und angefangen, Azzie zu streicheln. Deshalb hab ich beschlossen zu warten. Etwa eine Stunde später bekam er Nasenbluten. Fred hat ihn sauber gemacht. Dem musste ich erst mal sagen, dass er die Handtücher in einen Seuchensack stecken soll.«

Als Seuchensack bezeichnete das Personal die biologisch abbaubaren Kunststoffbeutel, in denen mit Körperflüssigkeiten oder Gewebe verunreinigte Kleidung, Bettwäsche und Handtücher aufbewahrt wurden. Das war gesetzlich vorgeschrieben, um die Verbreitung von durch Blut übertragbaren Krankheiten zu verhindern.

»Als ich vor einer knappen Dreiviertelstunde nach ihm gesehen habe, schlief er«, sagte Janice. »Ich hab ihn geschüttelt. Da hat er die Augen geöffnet, und die waren ganz blutunterlaufen.«

»Daraufhin hab ich bei Emerson angerufen«, sagte Claudette. »Und nachdem die Frau von seinem Telefondienst mir gesagt hat, das könnte ich vergessen, hab ich mich bei dir gemeldet. Gehst du jetzt runter?«

»Ja.«

»Viel Glück«, sagte Janice. »Ruf an, wenn du etwas brauchst.«

»Mach ich. Sag mal, Jannie, wieso informierst du dich eigentlich über Darmreinigung? Oder ist das eine zu persönliche Frage?«

Sie gähnte. »Zu dieser Zeit läuft sonst nur noch Werbung für den Ahh Bra. Und den hab ich schon.«

4

Die Tür der Shepard-Suite stand halb offen, aber Dan klopfte trotzdem. Als keine Antwort kam, drückte er sie ganz auf. Jemand (wahrscheinlich eine der Schwestern, denn Fred Carling war es bestimmt nicht gewesen) hatte das Bett ein Stück hochgekurbelt. Das Laken war bis zur Brust von Charlie Hayes hochgezogen. Er war einundneunzig, erschreckend mager und so bleich, dass er kaum noch am Leben zu sein schien. Dan musste dreißig Sekunden reglos dastehen, bevor er sich völlig sicher war, dass sich die Schlafanzugjacke des alten Mannes hob und senkte. Neben einem der sich schwach unter dem Laken abzeichnenden Hüftgelenke hatte sich Azzie zusammengerollt. Als Dan hereinkam, betrachtete der Kater ihn mit seinen unergründlichen gelben Augen.

»Mr. Hayes? Charlie?«

Charlies Augen öffneten sich nicht. Die Lider waren bläulich, und die Haut unter den Augen hatte sich zu einem dunklen, fast schwarzen Violett verfärbt. Als Dan neben das Bett trat, sah er noch eine andere Farbe: eine kleine Blutkruste unter jedem Nasenloch und in einem Winkel des geschlossenen Mundes.

Dan ging ins Bad und nahm einen Waschlappen, den er mit warmem Wasser tränkte und auswrang. Als er wieder zu Charlies Bett kam, erhob sich Azzie und trat behutsam auf die andere Seite des Schlafenden, damit Dan genug Platz hatte, sich zu setzen. Das Laken war noch warm von Azzies Körper. Sanft wischte Dan das Blut unter Charlies Nase ab. Während er mit dem Mundwinkel beschäftigt war, schlug Charlie die Augen auf. »Dan. Sie sind es doch, nicht wahr? Meine Augen sind ein wenig trübe.«

Blutunterlaufen waren sie.

»Wie geht es Ihnen, Charlie? Tut Ihnen etwas weh? Wenn Sie Schmerzen haben, kann Claudette Ihnen eine Tablette bringen.«

»Keine Schmerzen«, sagte Charlie. Sein Blick wanderte zu Azzie, dann zurück zu Dan. »Ich weiß, weshalb er da ist. Und ich weiß auch, weshalb Sie da sind.«

»Ich bin da, weil der Wind mich aufgeweckt hat. Azzie hat sich wahrscheinlich nur nach etwas Gesellschaft gesehnt. Katzen sind immerhin nachtaktive Tiere.«

Dan schob den Ärmel von Charlies Schlafanzugjacke hoch, um ihm den Puls zu fühlen. Auf dem dürren Unterarm des alten Mannes waren in einer Reihe vier violette Blutergüsse sichtbar. Bei fortgeschrittener Leukämie bekamen die Patienten schon blaue Flecke, wenn man sie nur anhauchte, aber diese Dinger waren von Fingern verursacht worden, und Dan wusste nur zu gut, wer dafür verantwortlich war. Seit er trocken war, hatte er seine Wut besser unter Kontrolle, aber sie war immer noch da, genau wie der gelegentliche starke Drang, sich einen hinter die Binde zu kippen.

Carling, du mieses Schwein! Hat er sich nicht schnell genug bewegt? Oder war es dir bloß zu lästig, ihm das Blut abzuwischen, statt in irgendwelchen Zeitschriften zu blättern und diese verfluchten gelben Cracker zu mampfen?

Er versuchte, seine Gefühle nicht zu zeigen, aber Azzie schien sie zu spüren und gab ein kurzes, kummervolles Miauen von sich. Unter anderen Umständen hätte Dan womöglich ein paar Fragen gestellt, aber jetzt musste er sich um dringendere Angelegenheiten kümmern. Azzie hatte wieder recht gehabt. Dan musste den Alten nur berühren, um das zu erkennen.

»Ich hab ziemlich Angst«, sagte Charlie. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Das leise, beständige Stöhnen des Windes draußen war lauter. »Das hätte ich nicht erwartet, aber so ist es.«

»Es gibt nichts, wovor Sie Angst haben müssten.«

Statt Charlie den Puls zu fühlen – das war eigentlich völlig sinnlos –, ergriff er mit beiden Händen die Hand des alten Mannes. Er sah Charlies Söhne, Zwillinge, im Alter von vier Jahren auf der Schaukel sitzen. Er sah, wie Charlies Frau im Schlafzimmer die Jalousie herunterzog, nackt bis auf den Schlüpfer aus belgischer Spitze, den ihr Mann ihr zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Er sah, wie ihr Pferdeschwanz über eine Schulter schwang, als sie sich umdrehte, um ihn anzublicken, auf dem Gesicht ein strahlendes Lächeln, das voll und ganz ja sagte. Er sah einen Farmall-Traktor, dessen Sitz von einem gestreiften Regenschirm geschützt war. Er roch Frühstücksspeck und hörte Frank Sinatra »Come Fly with Me« singen. Die Musik kam aus einem ramponierten Motorola-Radio, das auf einem Arbeitstisch mit allerhand Werkzeug stand. Er sah eine mit Regenwasser gefüllte Radkappe, in der sich eine rote Scheune spiegelte. Er schmeckte Blaubeeren, weidete einen Hirsch aus und angelte in einem fernen See, auf dessen Oberfläche ein steter Herbstregen trommelte. Er war sechzig und tanzte mit seiner Frau im Saal der American Legion. Er war dreißig und hackte Holz. Er war fünf, trug kurze Hosen und zog ein rotes Wägelchen hinter sich her. Dann verschwammen die Bilder ineinander, wie es Karten taten, wenn sie von einem geübten Spieler gemischt wurden, und der Wind wehte Schneemassen von den Bergen herab, während hier im Zimmer Stille herrschte und Azzie das Geschehen mit großem Ernst beobachtete. In solchen Augenblicken wusste Dan, wozu er auf der Welt war. Er bedauerte nichts von dem Schmerz, dem Kummer, der Wut und dem ganzen Entsetzen, denn dies alles hatte ihn hierhergeführt, während draußen der Wind heulte. Charlie Hayes war an die Grenze gelangt.

»Vor der Hölle hab ich keine Angst. Ich hab ein anständiges Leben geführt, und ich glaube sowieso nicht, dass es so etwas gibt. Ich hab Angst, es könnte nachher gar nichts kommen.« Er rang nach Atem. Im Winkel des rechten Auges schwoll ein Blutstropfen an. »Vorher war jedenfalls nichts, das wissen wir alle, also liegt es da nicht nahe, dass nachher auch nichts kommt?«

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