Doctor Sleep - Страница 32


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Weiß Gott, er wollte nicht wie sein Vater sein, der sich auch in seinen nüchternen Phasen nur mit größter Mühe hatte beherrschen können. Das AA-Programm sollte dabei helfen, mit der eigenen Wut umzugehen, und meistens tat es das auch, aber es gab Zeiten wie diese Nacht, in denen Dan bewusst wurde, wie wacklig die Barriere war. Zeiten, in denen er sich wertlos fühlte, und dann kam es ihm so vor, als wäre Schnaps das Einzige, was er verdiente. In solchen Zeiten fühlte er sich seinem Vater ganz nah.

Er dachte: Mama.

Er dachte: Zucka.

Er dachte: Wertlose Penner müssen ihre Medizin einnehmen. Und du weißt ja, wo die verkauft wird, oder? Praktisch überall.

Der Wind steigerte sich zu einer wilden Bö und ließ den Turm ächzen. Als er nachließ, war das Mädchen von der Tafel da. Dan konnte es fast atmen hören.

Er zog eine Hand unter dem Federbett hervor. Einen Moment lang schwebte sie einfach in der kalten Luft, und dann fühlte er, wie ihre – klein, warm – sich hineinschob. »Abra«, sagte er. »Du heißt Abra, aber manchmal nennt man dich Abby. Das stimmt doch, oder?«

Es kam keine Antwort, und eigentlich brauchte er auch keine. Alles, was er brauchte, war das Gefühl dieser warmen Hand in seiner. Es dauerte nur einige Sekunden, aber das war lang genug, ihn zu trösten. Er schloss die Augen und schlief ein.

8

Zwanzig Meilen weit entfernt, in der kleinen Stadt Anniston, lag Abra Stone wach in ihrem Bett. Die Hand, die ihre umschlossen hatte, hielt sie einige Augenblicke fest. Dann verwandelte sie sich in Dunst und war verschwunden. Aber sie war da gewesen. Er war da gewesen. Sie hatte ihn in einem Traum gefunden, doch als sie aufwachte, hatte sie festgestellt, dass dieser Traum echt war. Sie hatte in der Tür eines Zimmers gestanden. Was sie dort gesehen hatte, war gleichermaßen schrecklich und wunderbar. Da war der Tod, und der Tod war beängstigend, doch da war auch Hilfe gewesen. Der Mann, von dem die Hilfe gekommen war, hatte Abra nicht sehen können, der Kater jedoch schon. Der Kater hatte einen Namen, der so ähnlich war wie ihrer, aber nicht derselbe.

Er hat mich nicht gesehen, sondern gespürt. Und wir waren gerade eben noch zusammen. Ich glaube, ich hab ihm geholfen, so wie er dem Mann, der gestorben ist, geholfen hat.

Das war ein guter Gedanke. Abra hielt sich daran fest (wie sie die Phantomhand festgehalten hatte), während sie sich auf die Seite drehte, ihren Stoffhasen an die Brust drückte und einschlief.

Kapitel fünf
DER WAHRE KNOTEN

1

Der Wahre Knoten war zwar kein amtlich eingetragenes Unternehmen, aber wenn er eines gewesen wäre, dann hätte man manche Käffer in Maine, Florida, Colorado und New Mexico als seine Firmenstädte bezeichnet. Es waren Orte, in denen sämtliche größeren Geschäfte und viele große Grundstücke im Besitz des Knotens waren, verschleiert durch ein Gewirr von Holding-Gesellschaften. Diese Orte, die schillernde Namen wie Dry Bend, Jerusalem’s Lot, Oree und Sidewinder trugen, dienten dem Knoten als gelegentliche Zuflucht, aber die Wahren blieben nie lange dort; sie zogen meistens durch die Lande. Auf der Fahrt über die Schnell- und Fernstraßen Amerikas habt ihr sie vielleicht schon einmal gesehen. Vielleicht war es auf der I-95 in South Carolina, irgendwo südlich von Dillon und nördlich von Santee. Vielleicht war es auf der I-80 in Montana, in der hügligen Landschaft westlich von Draper. Oder in Georgia, während ihr euch langsam – wenn ihr wisst, was gut für euch ist – auf dem Highway 41 an der berüchtigten Radarfalle bei Tifton vorbeigemogelt habt.

Wie oft habt ihr wohl schon hinter einem schwerfälligen Wohnmobil festgehangen, Auspuffgase eingeatmet und ungeduldig auf eine Chance zum Überholen gewartet? Wie oft seid ihr mit vierzig Stundenmeilen dahingekrochen, wenn ihr stattdessen gut die legalen fünfundsechzig oder gar siebzig Meilen hättet schaffen können? Und wenn sich endlich eine Lücke in der Überholspur auftut und ihr nach links zieht, seht ihr – du lieber Himmel! – eine lange Kolonne aus diesen verfluchten Dingern vor euch, diese Spritfresser, die exakt zehn Meilen unterhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit dahinrollen, gesteuert von bebrillten, rüstigen Rentnern, die sich vornübergebeugt an ihren Lenkrädern festklammern, als fürchteten sie, die Dinger könnten ihnen wegfliegen.

Vielleicht seid ihr ihnen auch auf Raststätten begegnet, wenn ihr angehalten habt, um euch die Beine zu vertreten und ein paar Münzen in einen der Verkaufsautomaten zu werfen. Die Zufahrten zu diesen Raststätten teilen sich nach einer Weile doch immer, nicht wahr? Pkws auf den einen Parkplatz, Lastzüge und Wohnmobile auf den anderen. Normalerweise ist der für die Trucks und die Mobile ein Stück weiter weg. Vielleicht habt ihr die rollenden Heimstätten der Wahren auf diesem Parkplatz stehen sehen, alle dicht beieinander. Habt die Eigentümer zum Hauptgebäude gehen sehen – langsam, weil viele von ihnen alt aussehen und weil viele ziemlich fett sind –, immer in der Gruppe, immer auf Distanz zu anderen.

Manchmal nehmen sie eine der Ausfahrten, an denen reihenweise Tankstellen, Motels und Fast-Food-Schuppen stehen. Und wenn ihr diese ganzen Wohnmobile vor einem McDonald’s oder Burger King stehen seht, dann fahrt ihr weiter, weil ihr wisst, da drin stehen sie alle an der Theke an, die Männer mit schlaffen Golfhüten oder Anglermützen mit langem Schirm, die Frauen in Stretchhosen (normalerweise taubenblau) und T-Shirts, auf denen Sprüche wie FRAG MICH NACH MEINEN ENKELKINDERN! oder JESUS LEBT oder IMMER UNTERWEGS stehen. Da fahrt ihr lieber ein Stück weiter zum Waffle House oder zu Shoney’s, nicht wahr? Weil ihr wisst, die brauchen ewig, bis sie etwas bestellt haben, stieren träge auf die Speisekarte, wollen ihren Royal TS immer ohne Zwiebeln oder ihren Whopper ohne die Soße. Fragen, ob es in der Gegend irgendwelche interessanten Touristenattraktionen gibt, obwohl jeder sehen kann, dass dies bloß eines dieser Käffer mit ganzen drei Ampeln ist, das die jungen Leute verlassen, sobald sie die nächstgelegene Highschool absolviert haben.

Ihr seht sie gar nicht richtig, stimmt’s? Wieso solltet ihr das auch tun? Es sind bloß die Wohnmobilleute, ältere Rentner und einige jüngere Gesinnungsgenossen, die ihr wurzelloses Leben auf den Schnell- und Fernstraßen verbringen, die auf Campingplätzen hausen, wo sie in ihren Klappsesseln von Walmart herumhocken und sich auf ihrem Gartengrill was brutzeln, während sie sich über Geldanlagen, Angelwettbewerbe, Eintopfrezepte und weiß Gott was auslassen. Es sind die, die an jedem privaten Flohmarkt halten und ihre verfluchten Dinosaurier dabei von der Schnauze bis zum Hinterteil halb auf dem Bankett und halb auf der Straße parken, sodass ihr bremsen müsst, um im Schneckentempo an den Staatskarossen vorbeizukriechen. Sie sind das Gegenteil der Motorradclubs, die ihr manchmal auf denselben Schnell- und Fernstraßen seht, sie sind die milden statt die wilden Engel.

Sie nerven wie wahnsinnig, wenn sie im Pulk über eine Raststätte herfallen und sämtliche Toiletten besetzen, doch sobald ihre träge, vom langen Fahren betäubte Verdauung endlich funktioniert und ihr euch endlich ebenfalls erleichtern könnt, vergesst ihr sie wieder, nicht wahr? Sie sind nicht bemerkenswerter als ein Vogelschwarm auf einer Telefonleitung oder eine Herde Kühe, die auf einer Wiese neben der Straße grast. Gut, ihr fragt euch womöglich, wie sie sich diese monströsen Benzinschleudern leisten können (denn ein komfortables festes Einkommen müssen sie haben, wie könnten sie sonst ihre ganze Zeit damit verbringen, durch die Gegend zu gondeln), und ihr wundert euch, wie jemand wohl auf die Idee kommen kann, seinen Lebensabend zu verbringen, indem er auf den endlosen Straßen Amerikas von einem Kaff zum anderen fährt, aber abgesehen davon verschwendet ihr wahrscheinlich nie einen Gedanken an sie.

Und falls ihr zu den unglückseligen Menschen gehören solltet, die ein Kind verloren haben – nichts mehr da als ein Fahrrad auf dem unbebauten Grundstück am anderen Ende der Straße oder eine kleine Mütze, die zwischen den Sträuchern am Ufer eines nahen Flusses liegt –, habt ihr wahrscheinlich nicht an die gedacht. Wieso auch? Nein, das war wahrscheinlich irgendein Landstreicher. Oder (eine schlimmere, aber fürchterlich plausible Überlegung) irgendein krankes Arschloch aus eurer eigenen Stadt, vielleicht sogar aus eurem eigenen Viertel, vielleicht sogar aus eurer eigenen Straße, irgendein mordlüsterner Perversling, dem es wunderbar gelingt, völlig normal auszusehen, und der weiterhin allen normal vorkommen wird, bis jemand einen Haufen Knochen findet, den der Kerl in seinem Keller verstaut oder in seinem Garten vergraben hat. An die Wohnmobilleute denkt ihr nie, an diese mittelalterlichen Rentner und diese vergnügten alten Knacker mit ihren Golfhüten und ihren Sonnenvisieren, auf denen Blümchen appliziert sind.

Und meistens habt ihr recht. Es gibt Tausende von Wohnmobilleuten, aber im Jahr 2011 war in Amerika nur noch ein einziger Knoten übrig: der Wahre Knoten. Seine Mitglieder zogen gern durch die Lande, und das traf sich gut, weil sie sich so verhalten mussten. Wären sie an einem Ort geblieben, hätten sie irgendwann Aufmerksamkeit erregt, weil sie nämlich nicht wie andere Leute altern. Zum Beispiel hat es den Anschein, als würden Apron Annie, die so heißt, weil sie ein Faible für Schürzenkleider hat, oder Dirty Phil (Tölpelnamen Anne Lamont und Phil Caputo) über Nacht zwanzig Jahre älter werden. Oder als wären die Little-Zwillinge (Pea und Pod) schlagartig nicht mehr zweiundzwanzig, sondern zwölf (in etwa), das Alter, in dem sie ihre Umwandlung durchgemacht haben, aber das ist schon lange her. Das einzige Mitglied des Knotens, das tatsächlich jung ist, ist Andrea Steiner, inzwischen als Snakebite Andi bekannt … und selbst die ist nicht so jung, wie sie aussieht.

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