1
Es war mindestens drei Jahre lang nicht mehr geschehen, aber manches vergaß man nicht. Zum Beispiel wenn das eigene Kind mitten in der Nacht zu schreien anfing. Lucy war allein, weil David in Boston an einer zweitägigen Konferenz teilnahm, aber wenn er da gewesen wäre, so wäre er sofort durch den Flur in Abras Zimmer gerannt, das wusste sie. Er hatte es nämlich auch nicht vergessen.
Ihre Tochter saß aufrecht im Bett, mit bleichem Gesicht und vom Schlaf verstrubbelten Haaren, die ihr vom Kopf abstanden. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ins Leere. Das Laken – mehr brauchte sie nicht, um sich bei warmem Wetter zuzudecken – war um sie herumgewickelt wie ein wirrer Kokon.
Lucy setzte sich neben Abra und legte ihr den Arm um die Schultern. Es war, als würde sie einen Stein umarmen. Diese Phase war immer am schlimmsten – bevor Abra ganz aus ihrem Zustand auftauchte. Von den Schreien der eigenen Tochter aus dem Schlaf gerissen zu werden war furchtbar, aber diese Nichtansprechbarkeit war schlimmer. Im Alter von fünf bis sieben Jahren waren solche schrecklichen Nächte relativ häufig vorgekommen, und Lucy hatte immer Angst gehabt, das Gemüt des Kindes könnte unter der Belastung zerbrechen. Abra atmete zwar immer weiter, aber ihr Blick wandte sich nie von der Welt ab, die sie sah, ihre Eltern aber nicht sehen konnten.
Es wird nicht dazu kommen, hatte David sie beruhigt, und John Dalton hatte ihm zugestimmt. Kinder sind widerstandsfähig, hatte der Arzt gesagt. Wenn sie keine bleibenden Nachwirkungen zeigt – Zurückgezogenheit, Isolation, obsessives Verhalten, Bettnässen –, dann ist wahrscheinlich alles in bester Ordnung.
Aber es war nicht in Ordnung, dass Kinder schreiend aus Albträumen erwachten. Es war nicht in Ordnung, dass danach im Erdgeschoss manchmal wilde Klaviertöne erklangen, dass die Wasserhähne in dem Badezimmer am Ende des Flurs sich selbst aufdrehten und dass die Birne in der Lampe über Abras Bett manchmal platzte, wenn Lucy oder David den Schalter betätigten.
Dann war ihr unsichtbarer Freund gekommen, und der Abstand zwischen den Albträumen hatte sich vergrößert. Irgendwann hatten sie aufgehört. Bis zu dieser Nacht. Eigentlich war es jetzt gar keine Nacht mehr; Lucy sah das erste schwache Leuchten am östlichen Horizont – Gott sei Dank.
»Abs? Ich bin’s, Mami. Sprich mit mir.«
Fünf bis zehn weitere Sekunden gab es keine Reaktion. Dann endlich entspannte sich die Statue, um die Lucy den Arm gelegt hatte, und wurde wieder zu einem kleinen Mädchen. Abra tat einen tiefen, zittrigen Atemzug.
»Ich hatte einen von meinen schlimmen Träumen. Wie früher.«
»Das hab ich mir schon gedacht, Liebes.«
Abra konnte sich anscheinend kaum je an viel erinnern. Manchmal brüllten Menschen sich an oder schlugen mit den Fäusten aufeinander ein. Er hat den Tisch umgestoßen, als er hinter ihr hergelaufen ist, berichtete sie zum Beispiel. Ein anderes Mal hatte sie davon geträumt, dass eine einäugige Raggedy-Ann-Puppe am Rande eines Highways gelegen hatte. Einmal, als Abra erst vier gewesen war, hatte sie ihren Eltern erzählt, sie habe Geisterleute auf der Helen Rivington fahren sehen, einer beliebten Touristenattraktion in Frazier. Der Zug fuhr in einem großen Bogen von Teenytown zum Wolkentor und wieder zurück. Ich konnte sie sehen, weil der Mond schien, hatte Abra gesagt. Lucy und David hatten links und rechts neben ihr gesessen und die Arme um sie gelegt. Lucy erinnerte sich immer noch daran, wie feucht Abras schweißnasses Pyjamaoberteil sich angefühlt hatte. Ich wusste, dass es Geisterleute sind, weil sie Gesichter wie alte Äpfel hatten, und der Mond hat einfach durch sie hindurchgeschienen.
Am darauffolgenden Nachmittag war Abra wieder mit ihren Freunden herumgerannt, hatte gespielt und gelacht, aber dieses Bild hatte Lucy nie vergessen: tote Menschen, die in dem kleinen Zug durch den Wald fuhren, mit Gesichtern, die im Mondlicht wie durchsichtige Äpfel aussahen. Sie hatte Concetta gefragt, ob diese mit Abra schon einmal während eines ihrer »Mädelstage« mit der Eisenbahn gefahren sei. Chetta hatte das verneint. Die beiden waren zwar in Teenytown gewesen, aber der Zug hatte sich gerade in Reparatur befunden, weshalb sie stattdessen mit dem Karussell gefahren waren.
Nun blickte Abra zu ihrer Mutter hoch und fragte: »Wann kommt Daddy wieder?«
»Übermorgen. Er hat gesagt, dass er zum Mittagessen wieder da ist.«
»Das ist zu spät«, sagte Abra. Eine Träne quoll ihr aus dem Auge, kullerte an ihrer Wange herab und fiel auf ihr Pyjamaoberteil.
»Zu spät wofür? Woran erinnerst du dich, Abba-Doo?«
»Sie haben dem Jungen wehgetan.«
Lucy wollte das Ganze eigentlich nicht weiterverfolgen, aber sie hatte das Gefühl, es dennoch tun zu müssen. Es gab zu viele Verbindungen zwischen Abras früheren Träumen und Dingen, die tatsächlich geschehen waren. Zum Beispiel hatte David in der Sun – dem Lokalblatt von North Conway – ein Foto der einäugigen Stoffpuppe entdeckt, unter der Schlagzeile DREI TOTE BEI AUTOUNFALL IN OSSIPEE. Nach Abras Berichten über Leute, die sich angeschrien und aufeinander eingeschlagen hatten, hatte Lucy bei zwei verschiedenen Gelegenheiten in den darauffolgenden Tagen den Polizeibericht nach Festnahmen wegen häuslicher Gewalt durchforscht. Selbst John Dalton war der Meinung, dass Abra womöglich irgendwelche Übertragungen auffing – mit dem »schrägen Radio in ihrem Kopf«, wie er es nannte.
»Was für ein Junge?«, fragte sie daher. »Wohnt er hier in der Gegend? Weißt du das vielleicht?«
Abra schüttelte den Kopf. »Weit weg. Kann mich nicht erinnern.« Dann hellte ihr Gesicht sich auf. Die Schnelligkeit, mit der sie ihre Zustände hinter sich ließ, kam Lucy fast so unheimlich vor wie die Zustände selbst. »Aber ich glaube, ich hab es Tony gesagt. Und der sagt es vielleicht seinem Daddy.«
Tony, ihr unsichtbarer Freund. Den hatte sie schon einige Jahre lang nicht mehr erwähnt, und Lucy hoffte, dass dies keine Regression war. Mit zehn Jahren war man ein bisschen zu alt für unsichtbare Freunde.
»Tonys Daddy kann es vielleicht aufhalten.« Dann verdüsterte Abras Gesicht sich wieder. »Aber ich glaube, dafür ist es zu spät.«
»Tony war schon eine ganze Weile nicht mehr da, stimmt’s?« Lucy stand auf und schüttelte das zerknüllte Laken aus. Abra kicherte, als es an ihr Gesicht schwebte. Für Lucy war dies das schönste Geräusch der Welt. Ein gesundes Geräusch. Außerdem wurde es im Zimmer immer heller. Bald würden die ersten Vögel zwitschern.
»Mami, das kitzelt!«
»Mamis kitzeln ihre Kinder eben gern. Das gehört dazu. Also, was ist mit Tony?«
»Er hat gesagt, er kommt immer, wenn ich ihn brauche«, sagte Abra und schlüpfte unter das Laken. Sie klopfte neben sich aufs Bett, worauf Lucy sich hinlegte und das Kissen mit ihr teilte. »Das war ein schlimmer Traum, und ich hab Tony gebraucht. Ich glaube, er ist gekommen, aber ich kann mich nicht richtig erinnern. Sein Daddy arbeitet in einem Hotspitz.«
Das war etwas Neues. »Ist das ein Restaurant oder ein Laden?«
»Nein, so was Doofes! Das ist für Leute, die sterben werden.« Abra klang gutmütig, fast oberlehrerhaft, aber Lucy lief es trotzdem kalt den Rücken hinunter.
»Tony sagt, wenn Leute so krank sind, dass sie nicht mehr gesund werden, gehen sie in das Hotspitz, und sein Daddy kümmert sich drum, dass sie sich besser fühlen. Tonys Daddy hat einen Kater, der so ähnlich wie ich heißt. Ich heiße Abra, und der Kater heißt Azzie. Ist das nicht seltsam, aber so, dass es lustig ist?«
»Ja. Seltsam, aber lustig.«
John und David hätten wahrscheinlich gesagt, angesichts der Ähnlichkeit der beiden Namen handle es sich bei diesem Kater um die Erfindung eines sehr klugen kleinen Mädchens. Aber das hätten sie nur halb geglaubt, und Lucy glaubte es so gut wie gar nicht. Wie viele Zehnjährige wussten schon, was ein Hospiz war, selbst wenn sie das Wort falsch aussprachen?
»Erzähl mir von dem Jungen in deinem Traum.« Da Abra sich nun beruhigt hatte, schien ein Gespräch über dieses Thema ungefährlicher zu sein. »Sag mir, wer ihm wehgetan hat, Abba-Doo.«
»Das weiß ich nicht mehr, bloß noch, dass er dachte, Barney wäre sein Freund. Vielleicht war es auch Barry. Mami, kann ich Hoppy haben?«
Das war ihr Stoffhase, der mit hängenden Ohren auf dem höchsten Regalbrett ihres Zimmers im Exil saß. Abra hatte ihn schon mindestens zwei Jahre lang nicht mehr zum Schlafen mit ins Bett genommen. Lucy holte das Langohr und legte es ihrer Tochter in die Arme. Die drückte Hoppy an ihr rosa Pyjamaoberteil und schlief fast augenblicklich ein. Mit ein bisschen Glück schlief sie noch eine Stunde, vielleicht sogar zwei. Lucy setzte sich neben sie, um sie zu betrachten.
Bitte, lass das wirklich in ein paar Jahren aufhören, wie John es angekündigt hat. Noch besser: Lass es heute schon aufhören, an diesem Morgen. Bitte, ich will das nicht mehr. Ich will nicht mehr die Lokalzeitungen durchstöbern, um festzustellen, ob ein kleiner Junge von seinem Stiefvater umgebracht oder von irgendwelchen jungen Typen totgeprügelt wurde, die Klebstoff geschnüffelt haben. Mach, dass es ein Ende hat.
»Gott«, sagte sie mit sehr leiser Stimme. »Wenn es dich gibt, kannst du dann etwas für mich tun? Machst du bitte das Radio im Kopf meiner kleinen Tochter kaputt?«
2
Als die Wahren auf der I-80 wieder nach Westen rollten, auf den Ort im Hochland von Colorado zu, wo sie den Sommer verbringen wollten (immer vorausgesetzt, es ergab sich nicht die Gelegenheit, in der Nähe eine große Steam-Quelle anzuzapfen), saß Crow Daddy auf dem Beifahrersitz von Rose’ EarthCruiser. Jimmy Numbers, das Finanzgenie der Wahren, steuerte derweil den Affinity Country Coach von Crow. In Rose’ Satellitenradio lief auf Outlaw Country gerade »Whiskey Bent and Hellbound« von Hank Williams Jr. Das war ein guter Song, und Crow ließ ihn bis zum Ende laufen, bevor er die Aus-Taste drückte.