Doctor Sleep - Страница 42


К оглавлению

42

Er fuhr an der Kneipe vorbei, bog auf den riesigen Parkplatz von Walmart gleich dahinter ein und klappte sein Handy auf. Er ließ den Finger über Caseys Nummer schweben, dann erinnerte er sich an das schwierige Gespräch im Café. Womöglich wäre Casey darauf zurückgekommen, vor allem auf die Frage, was Dan womöglich verschweige. Das wäre ein echter Rohrkrepierer.

Dan kam sich vor wie bei einer außerkörperlichen Erfahrung, während er zur Kneipe zurückfuhr und sich ganz hinten auf den ungeteerten Parkplatz stellte. Er fühlte sich gut dabei. Außerdem fühlte er sich wie jemand, der gerade eine geladene Pistole in die Hand genommen hatte und sich an die Schläfe hielt. Sein Fenster war offen, und er hörte, wie eine Live-Band einen alten Song der Derailers spielte: »Lover’s Lie«. Die Typen hörten sich gar nicht schlecht an, und mit ein paar Gläsern Bier intus würden sie sich toll anhören. Bestimmt saßen da drin ein paar Frauen, die tanzen wollten. Frauen mit lockigen Haaren und allerhand Schmuck, mit Röcken und Cowboyblusen. Die waren immer da. Er fragte sich, welche Sorte Whiskey man da wohl einschenkte, und Mann, Mann, Mann, o Mann, er war so durstig. Er öffnete die Wagentür, stellte einen Fuß auf den Boden, blieb jedoch mit gesenktem Kopf sitzen.

Zehn Jahre. Zehn gute Jahre, und die konnte er in den nächsten zehn Minuten wegschmeißen. Es wäre leicht genug, das zu tun. Wie Honig für eine Biene.

Wir haben alle einen absoluten Tiefpunkt. Eines Tages wirst du irgendjemand von deinem Tiefpunkt erzählen müssen. Wenn du das nicht tust, wirst du dich irgendwann mit einem Glas Schnaps in der Hand in einer Kneipe wiederfinden.

Und daran kann ich dir die Schuld geben, Casey, dachte er kühl. Ich kann sagen, das hast du mir beim Kaffeetrinken in den Kopf gesetzt.

Über der Tür war ein rot blinkender Pfeil angebracht, dazu der Schriftzug: BIS 21 UHR $ 2 PRO KRUG MILLER LITE LOS KOMM REIN.

Dan zog die Wagentür zu, klappte sein Handy wieder auf und rief John Dalton an.

»Na, wie geht es deinem Kumpel?«, fragte John.

»Der liegt gut versorgt im Krankenhaus und wird morgen früh um sieben operiert. John, ich hab Lust, mir einen hinter die Binde zu kippen.«

»O neiiin!«, rief John mit hoher Fistelstimme. »Doch nicht etwa Alkohoool?!«

Und mir nichts, dir nichts war das Bedürfnis verschwunden. Dan lachte. »Okay, das hab ich jetzt gebraucht. Aber wenn du je wieder Michael Jackson spielst, trinke ich tatsächlich was.«

»Du solltest mich mal hören, wenn ich ›Billie Jean‹ zum Besten gebe. Ich bin ein wahres Karaoke-Monster. Darf ich dich was fragen?«

»Klar.« Durch die Windschutzscheibe sah Dan, wie die Gäste des Cowboy Boot kamen und gingen. Vermutlich unterhielten sie sich nicht gerade über Michelangelo.

»Diese Gabe, die du da hast, hat das Saufen sie … wie soll ich sagen … zum Schweigen gebracht?«

»Es hat sie gedämpft. Hat ihr ein Kissen aufs Gesicht gepresst, sodass sie nach Luft ringen musste.«

»Und jetzt?«

»Wie Superman nutze ich meine Kräfte, um Wahrheit, Gerechtigkeit und dem American Way of Life Geltung zu verschaffen.«

»Das heißt, du willst nicht drüber sprechen.«

»Nein«, sagte Dan. »Das will ich nicht. Aber es ist besser geworden. Besser, als ich es mir je hätte vorstellen können. Als Jugendlicher …« Er verstummte. Als Jugendlicher hatte er jeden Tag dagegen angekämpft, verrückt zu werden. Die Stimmen in seinem Kopf waren schlimm gewesen, die Bilder häufig noch schlimmer. Er hatte sowohl seiner Mutter wie sich selbst versprochen, dass er nie wie sein Vater trinken werde, aber als er in seinem ersten Highschool-Jahr damit angefangen hatte, war es eine so gewaltige Erleichterung gewesen, dass er sich – zuerst – gewünscht hatte, früher damit angefangen zu haben. Der Kater am Morgen war wesentlich besser als Albträume die ganze Nacht. Was alles irgendwie zu einer ganz bestimmten Frage führte: Wie sehr war er der Sohn seines Vaters? In wie vieler Hinsicht?

»Als Jugendlicher, was war da mit dir?«, fragte John.

»Nichts. Ist nicht so wichtig. Hör mal, ich sollte hier verschwinden. Ich stehe nämlich auf dem Parkplatz einer Kneipe.«

»Tatsächlich?« John klang interessiert. »Welche ist es denn?«

»Der Schuppen nennt sich Cowboy Boot. Bis neun kostet der Krug Bier bloß zwei Dollar.«

»Dan.«

»Ja, John.«

»Ich kenne den Laden von früher. Wenn du dein Leben schon ins Klo spülen willst, fang bitte nicht dort damit an. Die Frauen sind mit Speed zugedröhnte Schlampen, und auf der Männertoilette riecht es nach muffigen Tangas. Dieser Laden ist genau das Richtige, wenn man am absolutenTiefpunkt angekommen ist.«

Da war er wieder, dieser Ausdruck.

»Wir haben alle einen Tiefpunkt«, sagte Dan. »Stimmt doch, oder?«

»Scher dich da weg, Dan.« Jetzt klang John todernst. »Sofort. Keine Spielchen mehr. Und bleib am Telefon, bis dieser große Cowboystiefel aus Neon auf dem Dach aus deinem Rückspiegel verschwunden ist.«

Dan ließ den Motor an und lenkte den Wagen aus dem Parkplatz auf die Landstraße.

»Er wird jetzt kleiner«, sagte er. »Immer kleiner … unnnd … jetzt ist er ganz weg.« Er verspürte eine unsägliche Erleichterung. Außerdem verspürte er eine Art bitteres Bedauern – wie viele Krüge Bier für zwei Dollar hätte er wohl bis neun Uhr schaffen können?

»Du wirst dir doch nicht etwa einen Sechserpack oder eine Flasche Wein besorgen, bevor du nach Frazier zurückkommst, oder?«

»Nein. Ich bin brav.«

»Dann sehen wir uns am Donnerstagabend. Komm ein bisschen früher, den Kaffee koche ich. Folgers Coffee, aus meinem Spezialvorrat.«

»Ich komme«, sagte Dan.

12

Als er in sein Turmzimmer kam und das Licht anknipste, stand auf der Tafel eine neue Nachricht.

Ich hatte einen wunderschönen Tag!

Deine Freundin

ABRA

»Das ist fein, Kleines«, sagte Dan. »Ich freue mich.«

Ein Summen. Die Sprechanlage. Er ging hinüber und drückte auf die Taste.

»Hallo, Doctor Sleep«, sagte Loretta Ames. »Hab ich doch richtig gesehen, dass du reingekommen bist. Offiziell hast du heute zwar wohl frei, aber willst du vielleicht trotzdem einen Hausbesuch machen?«

»Bei wem? Bei Mr. Cameron oder bei Mr. Murray?«

»Cameron. Azzie sitzt schon seit kurz nach dem Abendessen bei ihm.«

Ben Cameron war in Gebäude eins untergebracht. Im Obergeschoss. Ein dreiundachtzigjähriger früherer Buchhalter mit Herzinsuffizienz. Ein unheimlich netter Kerl. Spielte gut Scrabble und war eine absolute Plage beim Mensch ärgere dich nicht, wo er Barrieren errichtete, die seine Gegner zum Wahnsinn trieben.

»Ich gehe gleich rüber«, sagte Dan. Auf dem Weg hinaus blieb er kurz stehen, um über die Schulter einen Blick auf die Tafel zu werfen. »Gute Nacht, Liebes«, sagte er.

Von da an hörte er zwei Jahre kein Wort von Abra Stone.

Während derselben zwei Jahre schlummerte etwas im Blutkreislauf des Wahren Knotens. Ein kleines Abschiedsgeschenk von Bradley Trevor, dem Baseballjungen.

Teil zwei
LEERE TEUFEL

Kapitel sieben
»HAST DU MICH GESEHEN?«

1

An einem Augustmorgen des Jahres 2013 erwachte Concetta Reynolds früh in ihrer Bostoner Eigentumswohnung. Wie immer nahm sie als Erstes wahr, dass in der Ecke neben der Kommode kein Hund lag. Betty war nun schon jahrelang tot, aber Chetta vermisste sie immer noch. Sie schlüpfte in ihren Bademantel und ging in die Küche, wo sie sich ihren Morgenkaffee machen wollte. Das war ein Weg, den sie schon Tausende Male zurückgelegt hatte, und sie hatte keinen Grund zu der Annahme, diesmal würde irgendetwas anders sein. Erst recht nicht kam ihr in den Sinn, dies könnte sich als erstes Glied in einer Kette unheilvoller Ereignisse entpuppen. Sie sei nicht gestolpert, erzählte sie ihrer Enkeltochter Lucy noch am selben Tag, auch habe sie sich nirgendwo angestoßen. Sie hörte einfach ein belangloses schnappendes Geräusch an der rechten Seite ihres Körpers, dann lag sie auf dem Boden und spürte, wie ein warmer, qualvoller Schmerz ihr Bein hinauf- und hinunterzuckte.

Etwa drei Minuten lag sie so da, starrte auf ihr undeutliches Spiegelbild in dem polierten Parkettboden und zwang den Schmerz nachzulassen. Gleichzeitig führte sie ein Selbstgespräch. Was für ein Blödsinn, in dem Alter allein zu leben. David sagt dir schon seit fünf Jahren, dass du zu alt dafür bist, und jetzt wird er dir endlos damit in den Ohren liegen.

Allerdings würde eine Betreuerin das Zimmer belegen, das sie für Lucy und Abra reserviert hatte, und Chetta lebte für die Besuche der beiden. Jetzt mehr denn je, seit Betty tot war und sie sich anscheinend an Gedichten sattgeschrieben hatte. Und auch wenn sie schon siebenundneunzig war, war sie bisher gut zurechtgekommen und fühlte sich wohl. Gute Gene mütterlicherseits. Hatte nicht ihre eigene Großmutter vier Ehemänner und sieben Kinder zu Grabe getragen, und war sie nicht hundertundzwei geworden?

Um die Wahrheit zu sagen (wenn auch nur sich selbst gegenüber), hatte sie sich im vorangegangenen Sommer allerdings nicht ganz so wohlgefühlt. In diesem Sommer war es etwas … schwierig gewesen.

Als der Schmerz endlich nachließ – ein wenig –, kroch sie durch den kurzen Flur auf die Küche zu, in der sich nun die Morgendämmerung ausbreitete. Vom Boden aus, fand Chetta, war dieses wunderschöne rosafarbene Licht schwerer zu genießen. Jedes Mal wenn die Schmerzen zu stark wurden, hielt sie keuchend inne und legte den Kopf auf ihrem knochigen Arm ab. Während dieser Ruhepausen dachte sie über die sieben Lebensalter des Menschen nach und kam zu dem Schluss, dass diese einen vollkommenen (und vollkommen dämlichen) Kreislauf beschrieben. So wie jetzt hatte sie sich schon einmal vor langer Zeit fortbewegt, im vierten Jahr des Ersten Weltkriegs, den man anschließend – wie lustig – als »letzten aller Kriege« bezeichnet hatte. Damals war sie als Concetta Abruzzi über die Türschwelle des elterlichen Bauernhofs in Davoli gekrabbelt, in der Absicht, draußen die Hühner zu fangen, die ihr jedoch mühelos entwischten. Nach diesem staubigen Anfang hatte sie ein fruchtbares und interessantes Leben geführt. Sie hatte zwanzig Gedichtbände veröffentlicht, mit Graham Greene Tee getrunken und mit zwei amerikanischen Präsidenten diniert. Vor allem war ihr eine goldige, blitzgescheite und mit einer merkwürdigen Gabe ausgestattete Urenkelin geschenkt worden. Und wohin führten all diese wunderbaren Dinge?

42