Doctor Sleep - Страница 46


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Es war Nacht. Sie roch Kuhdung. Da war eine Fabrik. Irgendeine

(die ist stillgelegt)

Fabrik. Eine ganze Kolonne von Fahrzeugen bewegte sich darauf zu, einige klein, die meisten groß, manche riesig. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet, damit niemand sie sah, aber es stand ein Dreiviertelmond am Himmel. Hell genug, etwas zu sehen. Sie fuhren eine holprige, mit Schlaglöchern übersäte Teerstraße entlang, an einem Wasserturm und einem Schuppen mit eingestürztem Dach vorbei, dann fuhren sie durch ein rostiges Tor, das offen stand, und dann an einem Schild vorüber. Das Schild zog so schnell vorbei, dass Abra es nicht lesen konnte. Dann die Fabrik. Eine stillgelegte Fabrik mit kaputten Schornsteinen und kaputten Fenstern. Ein weiteres Schild kam, das Abra dank dem Mondlicht lesen konnte: BETRETEN VERBOTEN! CANTON COUNTY SHERIFF’S DEPT.

Sie fuhren auf die Rückseite, und wenn sie dort ankamen, würden sie Brad, dem Baseballjungen, wehtun – so lange, bis er tot war. Das wollte Abra nicht sehen, weshalb sie alles rückwärtslaufen ließ. Das war ziemlich schwierig, ungefähr so schwierig, wie ein Konservenglas mit einem ganz fest schließenden Deckel zu öffnen, aber sie schaffte es. Als sie wieder dort angekommen war, wo sie hinwollte, ließ sie los.

Der Baseballhandschuh gefiel Barry the Chunk, weil er ihn an die Zeit erinnerte, als er ein kleiner Junge gewesen war. Deshalb probierte er ihn an. Er probierte ihn an und roch das Öl, mit dem Brad den Handschuh einrieb, damit er nicht steif wurde, und dann schlug Barry ein paarmal mit der anderen Faust auf den Hand

Aber nun bewegte sich alles vorwärts, und sie vergaß Brads Baseballhandschuh wieder.

Wasserturm. Schuppen mit eingestürztem Dach. Rostiges Tor. Und dann das erste Schild. Was stand darauf?

Nein. Immer noch zu schnell, trotz Mondlicht. Sie spulte wieder zurück (inzwischen standen ihr Schweißtropfen auf der Stirn) und ließ los. Wasserturm. Schuppen mit eingestürztem Dach. Achtung, gleich kommt es! Rostiges Tor. Dann das Schild. Diesmal konnte sie es lesen, wenngleich sie sich nicht sicher war, ob sie es verstand.

Abra griff nach dem Blatt Papier, auf das sie die ganzen Namen dieser dämlichen Boygroupmitglieder gemalt hatte, und drehte es um. Eilig, bevor sie es wieder vergaß, kritzelte sie alles hin, was sie auf dem Schild gesehen hatte: ORGANIC INDUSTRIES und ETHANOLFABRIK NR. 4 und FREEMAN, IOWA und BIS AUF WEITERES GESCHLOSSEN.

Okay, jetzt wusste sie, wo die ihn getötet hatten und wo – da war sie sich sicher – sie ihn samt seinem Baseballhandschuh begraben hatten. Was nun? Wenn sie die Nummer für vermisste und ausgebeutete Kinder anrief, hörten die Leute da eine Kinderstimme und würden ihr keine Beachtung schenken … außer dass sie ihre Nummer womöglich der Polizei weitergaben, weshalb sie dann wahrscheinlich dafür eingesperrt würde, dass sie Leuten, die ohnehin schon unglücklich waren, einen Streich spielen wollte. Als Nächstes dachte sie an ihre Mutter, aber da Momo krank war und bald sterben würde, kam die nicht infrage. Mama hatte ohnehin schon genug Sorgen.

Abra stand auf, ging zum Fenster und starrte hinaus auf die Straße, auf den Lickety-Split-Markt an der Ecke (den die älteren Kids als Lickety Spliff bezeichneten, weil dahinter, bei den Müllcontainern, so viele Joints geraucht wurden) und auf die in den klaren, blauen Spätsommerhimmel ragenden White Mountains. Sie rieb sich ständig den Mund, eine nervöse Angewohnheit, die ihre Eltern ihr abgewöhnen wollten, aber die waren nicht da, also piep drauf. Piep auf diesen ganzen Mist.

Dad sitzt da unten.

Dem wollte sie es allerdings auch nicht sagen. Nicht weil er sein Buch fertig schreiben musste, sondern weil er sich, selbst wenn er ihr glaubte, bestimmt nicht in so etwas hineinziehen lassen wollte. Um das zu wissen, musste sie gar nicht erst seine Gedanken lesen.

Aber wer dann?

Bevor ihr eine logische Antwort einfiel, begann die Welt hinter ihrem Fenster sich zu drehen, als wäre sie auf einer riesigen Scheibe befestigt. Abra stieß einen leisen Schrei aus, griff nach den Seiten des Fensters und packte mit beiden Fäusten die Vorhänge. So etwas hatte sich früher schon ereignet, immer ohne Vorwarnung, und sie war jedes Mal zu Tode erschrocken, weil sie überhaupt keine Kontrolle darüber hatte – es war wie ein Krampfanfall. Sie war nicht mehr in ihrem eigenen Körper, sie war in einem Zustand des Weitwegseins statt des Weitsehens. Was, wenn sie nicht mehr zurückkam?

Die Drehscheibe wurde langsamer und hielt schließlich an. Anstatt in ihrem Zimmer zu sein, befand Abra sich in einem Supermarkt. Das wusste sie, weil sie vor sich die Fleischtheke sah. Darüber (dank den hellen Neonleuchten war dieses Schild leicht zu lesen) stand ein Versprechen: BEI SAM’S IST JEDES STEAK EIN COWBOY-STEAK VON EXZELLENTER QUALITÄT! Ein oder zwei Momente lang kam die Fleischtheke näher, weil die Drehscheibe Abra in jemand hineingeschoben hatte, der gerade darauf zuging. Dieser Jemand ging und kaufte ein. Barry the Chunk? Nein, der nicht, obwohl Barry da war; durch Barry war sie hierhergelangt. Allerdings war sie von jemand, der wesentlich mächtiger war, von ihm weggezogen worden. Am unteren Rand ihres Blickfelds sah Abra einen mit Lebensmitteln beladenen Einkaufswagen. Dann hörte die Vorwärtsbewegung auf, und eine Empfindung meldete sich, das

(wühlende schnüffelnde)

wahnwitzige Gefühl, dass jemand sich IN IHR befand, und mit einem Mal begriff Abra, dass sie diesmal nicht allein auf der Drehscheibe war. Sie blickte auf eine Fleischtheke am Ende eines Gangs im Supermarkt, und die andere Person blickte aus Abras Fenster auf die Straße und die Berge jenseits davon.

In ihrem Innern explodierte Panik; es war, als hätte man Benzin in ein offenes Feuer gegossen. Kein Laut entschlüpfte ihren Lippen, die so fest zusammengepresst waren, dass ihr Mund nur ein Strich war, aber in ihrem Kopf stieß sie einen Schrei aus, der lauter war als alles, wozu sie sich fähig gehalten hätte:

(NEIN! GEH RAUS AUS MEINEM KOPF!)

8

Als David spürte, wie das Haus erzitterte, und sah, wie die Deckenlampe seines Arbeitszimmers an ihrer Kette hin- und herpendelte, war sein erster Gedanke

(Abra)

dass seine Tochter einen ihrer übersinnlichen Ausbrüche hatte. Allerdings war dieser telekinetische Mist schon seit Jahren nicht mehr aufgetreten, und so etwas hatte er überhaupt noch nicht erlebt. Als sich die Lage wieder normalisierte, war sein zweiter – und seiner Meinung nach wesentlich vernünftigerer – Gedanke, gerade sein erstes Erdbeben in New Hampshire erlebt zu haben. So etwas kam von Zeit zu Zeit vor, das wusste er, aber … wow!

Er erhob sich von seinem Schreibtischstuhl (natürlich nicht, ohne vorher auf »Speichern« zu klicken) und lief in den Flur. Am unteren Ende der Treppe rief er: »Abra! Hast du das gespürt?«

Bleich und wie verängstigt kam sie aus ihrem Zimmer heraus. »Ja, irgendwie schon. Ich … ich glaube, ich …«

»Das war ein Erdbeben«, erklärte David ihr strahlend. »Dein erstes Erdbeben! Ist das nicht toll?«

»Ja«, sagte Abra, ohne besonders begeistert zu klingen. »Toll.«

Er blickte aus dem Wohnzimmerfenster und sah die Nachbarn auf ihren Terrassen und Rasenflächen stehen. Auch sein Freund Matt Renfrew war dabei. »Ich gehe mal über die Straße und rede mit Matt, Schatz. Willst du mitkommen?«

»Ach nee, ich mache lieber meine Mathe-Hausaufgaben fertig.«

David ging auf die Haustür zu, dann drehte er sich um und blickte zu ihr hoch. »Du hast doch keine Angst, oder? Das brauchst du nicht. Es ist vorbei.«

Abra wünschte sich nichts mehr, als dass dem so wäre.

9

Rose the Hat kaufte für zwei ein, weil Grampa Flick sich wieder miserabel fühlte. Sie sah einige andere Mitglieder des Knotens bei Sam’s und nickte ihnen zu. Bei den Konservendosen blieb sie eine Weile stehen, um sich mit Barry the Chink zu unterhalten, der die von seiner Frau geschriebene Einkaufsliste in der Hand hielt. Barry machte sich Sorgen um Flick.

»Der erholt sich schon wieder«, sage Rose. »Du kennst Grampa doch.«

Barry grinste. »Zäher als ein alter Kaugummi.«

Rose nickte und schob ihren Einkaufswagen an. »Darauf kannst du wetten.«

Ein ganz gewöhnlicher Nachmittag im Supermarkt, und als sie sich von Barry verabschiedete, hielt sie das, was mit ihr geschah, zuerst fälschlich für etwas ganz Banales, zum Beispiel Unterzuckerung. Dazu neigte sie nämlich, weshalb in ihrer Handtasche normalerweise ein Schokoriegel steckte. Dann merkte sie, dass sich jemand in ihrem Kopf befand. Jemand schaute zu.

Rose war nicht durch Unentschlossenheit zu ihrer Position als Anführerin des Wahren Knotens aufgestiegen. Sie blieb stehen – ihr Einkaufswagen zeigte zur Fleischtheke, ihrem nächsten Ziel – und sprang sofort mitten hinein in die Verbindung, die irgendeine neugierige und potenziell gefährliche Person hergestellt hatte. Kein Mitglied des Knotens, denn die hätte sie alle sofort erkannt, aber auch kein gewöhnlicher Tölpel.

Nein, das war alles andere als gewöhnlich.

Der Supermarkt schwenkte weg, und plötzlich blickte sie auf eine Bergkette. Nicht die Rocky Mountains, die hätte sie erkannt. Diese Berge waren kleiner. Die Catskills? Die Adirondacks? Beides war möglich, es konnte aber auch ganz woanders sein. Und was den Zuschauer anging … das war wohl ein Kind. Ziemlich sicher ein Mädchen, und zwar eines, dem Rose schon einmal begegnet war.

Ich muss sehen, wie sie aussieht, dann kann ich sie finden, wann immer ich will. Ich muss sie dazu bringen, in einen Spiegel zu …

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