Doctor Sleep - Страница 48


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Wäre Lucy da gewesen, so wäre ihr womöglich etwas aufgefallen, was er nicht bemerkte: Anders als ihre Freundinnen kicherte Abra nicht pausenlos. Und nachdem sie eine Schale Eiscreme gegessen hatte (eine kleine Schale), fragte sie ihren Vater, ob sie zurückgehen dürfe, um ihre Hausaufgaben fertig zu machen.

»Klar«, sagte David. »Aber bedanke dich zuerst bei Mr. und Mrs. Renfrew.«

Das hätte Abra auch getan, ohne daran erinnert zu werden, aber sie nickte, ohne darauf hinzuweisen.

»Schön, dass du da warst, Abby«, sagte Mrs. Renfrew. Nach drei Gläsern Wein hatten ihre Augen einen irgendwie übernatürlichen Glanz. »War das nicht cool? Wir sollten öfter Erdbeben haben. Allerdings hab ich mit Vicky Fenton gesprochen – du kennst doch die Fentons in der Pond Street? Das ist bloß eine Straße weiter, und sie hat gesagt, sie hätten überhaupt nichts davon gespürt. Ist das nicht eigenartig?«

»Stimmt«, sagte Abra und dachte, was eigenartige Dinge angehe, habe Mrs. Renfrew keine rechte Ahnung.

12

Abra hatte ihre Hausaufgaben erledigt und saß mit ihrem Dad im Wohnzimmer vor dem Fernseher, als ihre Mama anrief. Sie unterhielten sich eine Weile, dann gab Abra das Telefon an ihren Vater weiter. Lucy sagte etwas, und Abra wusste, was es war, schon bevor Dave einen Blick auf sie warf und antwortete. »Ja, der geht’s gut. Sie ist bloß ziemlich geschafft von den Hausaufgaben, glaube ich. Die Kinder haben heutzutage so viel auf. Hat sie dir gesagt, dass wir ein kleines Erdbeben hatten?«

»Ich gehe rauf«, sagte Abra, und er winkte ihr abwesend zu.

Sie setzte sich an den Schreibtisch, schaltete ihren Computer ein und dann wieder aus. Sie hatte keine Lust, Fruit Ninja zu spielen, und mit jemand chatten wollte sie schon gar nicht. Sie musste darüber nachdenken, was sie tun sollte, denn irgendetwas musste sie tun.

Sie steckte die Schulbücher in ihren Rucksack, hob den Blick und sah, dass die Frau aus dem Supermarkt sie durchs Fenster hindurch anstarrte. Das war unmöglich, weil dieses Fenster sich im Obergeschoss befand, dennoch war die Frau da. Ihre Haut war makellos und von reinstem Weiß, sie hatte hohe Wangenknochen und dunkle Augen, die weit auseinanderstanden und an den Winkeln leicht schräg waren. Abra dachte, dass dies womöglich die schönste Frau war, die sie je gesehen hatte. Außerdem erkannte sie sofort und ohne den geringsten Zweifel, dass die Frau wahnsinnig war. Üppiges, schwarzes Haar umrahmte ihr vollkommenes, aber arrogantes Gesicht und fiel ihr über die Schultern. Auf dieser Haarpracht saß ein kesser Zylinder aus abgewetztem Samt, unverrückbar, obwohl er irrsinnig schief aufgesetzt war.

Sie ist nicht wirklich da, und in meinem Kopf ist sie auch nicht. Ich weiß nicht, wie ich sie sehen kann, und ich glaube nicht, dass sie weiß, dass …

Die Wahnsinnige hinter dem dunkler werdenden Fenster grinste, und als ihre Lippen sich teilten, sah Abra, dass sie oben nur einen einzigen Zahn hatte, einen scheußlich verfärbten Hauer. Das war, begriff sie, das Letzte, was Bradley Trevor in seinem Leben gesehen hatte, und sie schrie, schrie, so laut sie konnte … aber nur in ihrem Innern, denn ihre Kehle war verschlossen, und ihre Stimmbänder waren erstarrt.

Abra schloss die Augen. Als sie sie wieder aufmachte, war die grinsende Frau mit dem weißen Gesicht verschwunden.

Nicht mehr da. Aber sie könnte kommen. Sie weiß von mir, und sie könnte kommen.

In diesem Augenblick erkannte sie, was sie schon hätte wissen sollen, als sie die verlassene Fabrik gesehen hatte. Es gab eigentlich nur einen einzigen Menschen, an den sie sich wenden konnte. Nur einen, der ihr helfen konnte. Sie schloss wieder die Augen, aber diesmal nicht, um sich vor einer schauderhaften Erscheinung zu verstecken, die sie durchs Fenster hindurch ansah, sondern um Hilfe zu rufen.

(TONY ICH BRAUCHE DEINEN DAD! BITTE TONY BITTE!)

Mit geschlossenen Augen spürte sie die Wärme ihrer Tränen auf Wimpern und Wangen, während sie flüsterte: »Hilf mir, Tony. Ich hab Angst.«

Kapitel acht
ABRAS RELATIVITÄTSTHEORIE

1

Die letzte Fahrt des Tages mit der Helen Rivington trug den Titel »Sunset Cruise«, und an vielen Abenden, an denen Dan keinen Dienst im Hospiz hatte, betätigte er sich als Lokführer. Billy Freeman, der die Fahrt während seiner Jahre als städtischer Angestellter ungefähr fünfundzwanzigtausendmal unternommen hatte, überließ ihm das Steuer nur zu gern.

»Davon kriegst du nie genug, was?«, hatte er Dan einmal gefragt.

»Muss wohl an meiner benachteiligten Kindheit liegen.«

Eigentlich war er kein benachteiligtes Kind gewesen, aber nachdem sie die Abfindung aufgebraucht hatten, war seine Mutter oft mit ihm umgezogen und hatte viele verschiedene Jobs gehabt. Ohne College-Abschluss hatte sie meistens nicht viel verdient. Sie hatte dafür gesorgt, dass die beiden ein Dach über dem Kopf und genug Essen auf dem Tisch hatten, aber es war nie viel übrig geblieben.

Einmal – er war auf der Highschool gewesen, und sie hatten in Bradenton gewohnt, nicht weit von Tampa – hatte er sie gefragt, wieso sie nie mit Männern ausgehe. Inzwischen war er alt genug zu erkennen, dass sie immer noch eine sehr gut aussehende Frau war. Wendy Torrance, die sich nie vollständig von der ihr von ihrem Mann zugefügten Rückenverletzung erholt hatte, hatte ihn schief angelächelt und gesagt: »Ein Mann war genug für mich, Danny. Außerdem hab ich jetzt dich.«

»Wie viel wusste sie von deiner Sauferei?«, hatte Casey K. ihn bei einem ihrer Gespräche im Café gefragt. »Du hast doch schon ziemlich jung angefangen, oder?«

Darüber hatte Dan erst nachdenken müssen. »Wahrscheinlich wusste sie mehr, als ich damals dachte, aber wir haben nie darüber geredet. Ich glaube, sie hatte Angst, es zur Sprache zu bringen. Außerdem hab ich nie Probleme mit der Polizei gehabt – jedenfalls damals noch nicht –, und ich hab an der Highschool einen richtig guten Abschluss gemacht.« Er hatte Casey über seine Kaffeetasse hinweg grimmig angelächelt. »Und natürlich hab ich sie nie verprügelt. Das hat wohl den Ausschlag gegeben.«

Eine elektrische Eisenbahn hatte er natürlich nie bekommen, aber die Anonymen Alkoholiker lebten nach dem Grundsatz: Hör auf zu trinken, dann wird es besser. Das stimmte auch. Jetzt hatte er die größte kleine Eisenbahn, die ein Junge sich wünschen konnte, und Billy hatte recht, von der bekam er nie genug. Vielleicht änderte sich das in zehn oder zwanzig Jahren, aber selbst dann würde er sich wahrscheinlich noch für die letzte Fahrt des Tages zur Verfügung stellen, einfach um die Riv bei Sonnenuntergang zur Wendeschleife am Wolkentor zu steuern. Der Blick dort war spektakulär, und wenn der Saco River ruhig dahinfloss (wie meist, sobald das Frühjahrshochwasser zurückgegangen war), sah man alle Farben zweimal, einmal oben und einmal unten. Alles war still am anderen Ende der Bahnstrecke; es war, als würde Gott dort den Atem anhalten.

Die Fahrten zwischen Anfang September und dem zweiten Montag im Oktober, dem Kolumbus-Tag, nach dem die Riv für den Winter stillgelegt wurde, waren die besten. Dann waren die Touristen fort, und die wenigen Fahrgäste waren Einheimische, von denen er viele inzwischen mit Namen kannte. An Werktagen wie heute kamen abends weniger als ein Dutzend zahlende Passagiere. Aus Dans Sicht war das ganz gut so.

Als er die Riv behutsam rückwärts in den Bahnhof von Teenytown rollen ließ, war es schon ganz dunkel. Er schob seine Mütze, über deren Schirm mit rotem Faden der Schriftzug LOKFÜHRER DAN eingestickt war, in den Nacken und lehnte sich an den ersten Wagen, um der Handvoll von Passagieren einen schönen Abend zu wünschen. Billy saß auf einer Bank; das Ende seiner Zigarette glühte gelegentlich auf und erleuchtete sein Gesicht. Inzwischen war er fast siebzig, sah jedoch noch gut aus. Von seiner zwei Jahre zurückliegenden Operation war er vollständig genesen, und er hatte nicht die Absicht, in Rente zu gehen.

»Was sollte ich dann tun?«, hatte er bei der einzigen Gelegenheit gefragt, bei der Dan das Thema angesprochen hatte. »Mich bei der Sterbefabrik anmelden, wo du arbeitest? Darauf warten, dass euer Kater mir ’nen Besuch abstattet? Nein danke, wirklich nicht.«

Als die letzten paar Passagiere sich auf den Weg gemacht hatten, wahrscheinlich in Richtung Abendessen, drückte Billy seine Kippe aus und gesellte sich zu Dan. »Ich fahre sie in den Schuppen. Falls du das nicht auch noch tun willst.«

»Nein, mach nur. Du hast jetzt lange genug auf deinem Arsch gesessen. Übrigens, wann lässt du eigentlich das Rauchen bleiben, Billy? Wie du weißt, hat der Arzt gesagt, dass deine Qualmerei zu deinem kleinen Herzproblem beigetragen hat.«

»Ich hab’s doch praktisch schon auf null reduziert«, sagte Billy, senkte jedoch den Blick. Dan hätte problemlos herausbekommen können, wie viel Billy noch rauchte – wahrscheinlich hätte er ihn nicht einmal berühren müssen, um sich diese Information zu verschaffen –, aber er verzichtete darauf. An einem Tag im gerade vergangenen Sommer hatte er einen jungen Burschen mit einem T-Shirt gesehen, das mit einem achteckigen Stoppschild bedruckt war. Statt STOP hatte jedoch ZVI auf dem Schild gestanden. Als Danny sich nach der Bedeutung erkundigt hatte, hatte ihm der Junge ein verständnisvolles Lächeln geschenkt, das er wahrscheinlich für über vierzigjährige Herren reservierte. »Zu viel Information«, hatte er gesagt. Dan hatte ihm gedankt und dabei gedacht: Das ist das Thema meines Lebens, du Grünschnabel.

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