Doctor Sleep - Страница 53


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Es war sinnlos, das zu leugnen. Abra konnte in ihm lesen wie in einem offenen Buch. »Also, kannst du einen Alarm einrichten? Wie einen Bewegungsmelder? Das ist …«

»Ich weiß, was ein Bewegungsmelder ist. Keine Ahnung, aber ich werd’s versuchen.«

Was sie als Nächstes sagen würde, wusste er schon, bevor sie es sagte, und das hatte nichts mit Gedankenlesen zu tun. Schließlich war sie noch ein Kind. Er sah sich um, als sie seine Hand ergriff, aber er entzog sich ihr nicht. »Versprich mir, dass sie mich nicht schnappen wird, Dan. Versprich es mir

Das tat er, weil sie ein Kind war und Trost brauchte. Aber natürlich gab es nur eine einzige Möglichkeit, so ein Versprechen zu halten, und die bestand darin, die Bedrohung zu beseitigen.

Wieder dachte er: Abra, da bringst du mich ganz schön in Schwierigkeiten.

Und wieder sagte sie, diesmal jedoch nicht laut:

(tut mir leid)

»Es ist nicht deine Schuld, Kleine. Du hast es nicht«

(bestellt)

»genauso wenig wie ich. Geh jetzt in die Bücherei. Ich muss zurück nach Frazier. Hab heute Nachtdienst.«

»Okay. Aber wir sind Freunde, ja?«

»Auf jeden Fall.«

»Darüber bin ich total froh.«

»Und ich bin mir sicher, dass dir der Fixer gut gefallen wird. Da geht’s um jemand, der allerhand Sachen repariert, und so was hast du auch schon getan, nicht wahr?«

An ihren Mundwinkeln bildeten sich hübsche Grübchen. »Ach, komm.«

»Doch, ganz bestimmt«, sagte Dan.

Er sah sie die Stufen hochgehen, dann blieb sie stehen und kam zurück. »Ich weiß zwar nicht, wer die Frau mit dem Hut ist, aber ich kenne einen ihrer Freunde. Sie nennen ihn Barry the Chunk oder so ähnlich. Wo sie ist, da ist dieser Barry irgendwo in der Nähe, da bin ich mir sicher. Und den könnte ich finden, wenn ich den Handschuh von diesem Baseballjungen hätte.« Sie sah ihn an, ein unbeirrter, fester Blick aus diesen wunderschönen blauen Augen. »Das weiß ich, denn einen Moment lang hat dieser Chunk-Barry den getragen

10

Auf halber Strecke zwischen Anniston und Frazier erinnerte sich Dan, der immer noch über Abras Frau mit dem Hut nachgrübelte, auf einmal an etwas, was ihn wie ein Blitz durchfuhr. Fast wäre er über die Mittellinie geraten, und ein entgegenkommender Lastzug hupte ihn verärgert an.

Es war zwölf Jahre her, damals war er noch neu in Frazier gewesen, und seine Abstinenz hatte auf äußerst wackligen Beinen gestanden. Er war damals auf dem Rückweg zum Haus von Mrs. Robertson, wo er am selben Tag ein Zimmer gemietet hatte. Ein Schneesturm war im Anzug, weshalb Billy Freeman ihm ein Paar Stiefel mitgegeben hatte. Toll sehen sie nicht aus, aber wenigstens haben beide die gleiche Größe. Und als er von der Morehead in die Eliot Street eingebogen war, hatte er gesehen, wie …

Gleich vor ihm war ein Rastplatz. Er parkte und ging auf das Geräusch fließenden Wassers zu. Es war natürlich der Saco, der zwischen North Conway und Crawford Notch durch zwei Dutzend kleine Orte strömte, die er wie Perlen an einer Schnur miteinander verband.

Ich hab einen Hut den Gehweg entlangrollen sehen. Einen alten, ramponierten Zylinder, wie Zauberer ihn tragen. Oder Schauspieler in einem alten Musical. Allerdings war der nicht wirklich da, denn als ich die Augen geschlossen und auf fünf gezählt hab, war er verschwunden.

»Okay, das war eine Erscheinung«, erklärte er dem rauschenden Wasser. »Aber das heißt noch lange nicht, dass das der Hut ist, den Abra gesehen hat.«

Allerdings wusste er es besser, denn später in jener Nacht hatte er von Deenie geträumt. Sie war tot gewesen, und ihr Gesicht hatte an ihrem Schädel gehangen wie Teig von einem Stock. Um die Schultern trug sie die Decke, die Dan vom Einkaufswagen eines Penners gestohlen hatte. Halt dich von der Frau mit dem Hut fern, Honigbär. Das hatte sie gesagt. Und noch etwas anderes … was?

Die ist die Bienenkönigin vom Höllenschloss.

»An so was erinnert man sich doch nicht«, sagte er zu dem rauschenden Wasser. »Niemand erinnert sich nach zwölf Jahren noch an Träume.«

Aber er schon. Und jetzt erinnerte er sich auch an das, was die Tote aus Wilmington noch gesagt hatte: Wenn du ihr in die Quere kommst, frisst sie dich bei lebendigem Leib.

11

Kurz nach sechs Uhr schloss er sein Turmzimmer auf, ein Tablett mit Essen aus der Cafeteria in der Hand. Sein erster Blick galt der Tafel, und er lächelte über das, was dort in Druckbuchstaben stand:

Danke, dass du mir geglaubt hast.

Als ob ich eine Wahl gehabt hätte, Kleines.

Er löschte Abras Botschaft, bevor er sich mit seinem Abendessen an den Tisch setzte. Nachdem er den Rastplatz verlassen hatte, waren seine Gedanken zu Dick Hallorann zurückgekehrt. Das lag wohl nahe, denn wenn man von jemand gebeten wurde, als Lehrer zu fungieren, wandte man sich an seinen eigenen Lehrer, um herauszufinden, wie man das tat. Während seiner Jahre als Alkoholiker hatte Dan den Kontakt zu Dick verloren (hauptsächlich, weil er sich schämte), aber vielleicht ließ sich herausfinden, was aus seinem alten Freund geworden war. Womöglich konnte er sogar in Verbindung mit ihm treten, falls er noch am Leben war. Viele Leute wurden über neunzig, wenn sie sich gut um sich kümmerten. Abras Urgroßmutter zum Beispiel – die hatte bestimmt so viele Jahre auf dem Buckel.

Ich brauche ein paar Antworten, Dick, und du bist der einzige Mensch, der sie mir eventuell geben könnte. Also, mein Freund, tu mir den Gefallen, und sei noch am Leben.

Er fuhr seinen Computer hoch und startete Firefox. Dick hatte früher während der Wintermonate in mehreren Urlaubshotels in Florida gekocht, das wusste er, aber an die Namen der Hotels erinnerte er sich nicht mehr. Er wusste nicht einmal mehr, ob sie an der Ost- oder an der Westküste gewesen waren. Wahrscheinlich sowohl als auch – ein Jahr in Naples, das nächste in Palm Beach, das übernächste in Sarasota oder Key West. Für einen Mann, der den Gästen, besonders denen mit Geld in der Tasche, den Gaumen kitzeln konnte, gab es immer Arbeit, und Dick hatte ein besonderes Händchen dafür gehabt. Ein großer Vorteil bei der Suche war wahrscheinlich die ungewöhnliche Schreibweise von Dicks Familiennamen – nicht Halloran, sondern Hallorann. Er tippte Richard Hallorann und Florida ins Suchfeld ein und klickte auf Suche. Es kamen massenhaft Ergebnisse, aber als sein Blick auf den dritten Eintrag von oben fiel, war er sich sicher, den richtigen gefunden zu haben, gleichzeitig entfuhr ihm ein leiser, enttäuschter Seufzer. Nach einem Klick auf den Link erschien ein Artikel aus dem Miami Herald. Kein Zweifel. Wenn das Alter und der Name in der Überschrift standen, wusste man genau, was man las.

Richard »Dick« Hallorann (81),

bekannter Küchenchef aus South Beach

Darunter war ein Foto abgebildet. Es war klein, aber dieses fröhliche, wissende Gesicht hätte Dan immer erkannt. Ob er wohl einsam gestorben war? Wahrscheinlich nicht. Dazu war Dick zu gesellig gewesen … und zu sehr ein Liebhaber weiblicher Begleitung. An seinem Totenbett hatten bestimmt genügend Leute gestanden, aber die beiden, die er in jenem Winter in Colorado gerettet hatte, waren nicht da gewesen. Wendy hatte eine triftige Entschuldigung; sie war ihm vorangegangen. Ihr Sohn jedoch …

Hatte er in irgendeiner miesen Kneipe gehockt, Whiskey gesoffen und in der Jukebox Trucker-Songs laufen lassen, als Dick hinübergegangen war? Oder hatte er die Nacht womöglich wegen Trunkenheit und ungebührlichem Benehmen im Knast verbracht?

Als Todesursache war ein Herzinfarkt angegeben. Dan scrollte nach oben, um das Datum zu suchen: 19. Januar 1999. Der Mann, der Dans Leben und das Leben von dessen Mutter gerettet hatte, war schon seit fast fünfzehn Jahren tot. Von ihm war keine Hilfe mehr zu erwarten.

Hinter sich hörte Dan das leise Quietschen von Kreide auf Schiefer. Einen Moment lang blieb er sitzen, sein kalt werdendes Essen und den Laptop vor sich. Dann drehte er sich langsam um.

Die Kreide lag immer noch auf der Ablage am unteren Rand der Tafel, aber trotzdem tauchte ein Bild auf. Es war unbeholfen gezeichnet, doch erkennbar. Es war ein Baseballhandschuh. Als das Bild fertig war, zeichnete Abras Kreide – unsichtbar, aber immer noch mit jenem leisen, quietschenden Geräusch – ein Fragezeichen in die Mitte des Handschuhs.

»Darüber muss ich nachdenken«, sagte er, aber bevor er das tun konnte, summte die Sprechanlage. Ein Auftrag für Doctor Sleep.

Kapitel neun
DIE STIMMEN UNSERER TOTEN FREUNDE

1

Mit ihren hundertundzwei Jahren war Eleanor Ouellette in jenem Herbst des Jahres 2013 die älteste Bewohnerin von Rivington House. Sie war so alt, dass ihr Familienname nie amerikanisiert worden war – sie sprach ihn nicht Uíllitt aus, sondern in seiner wesentlich eleganteren französischen Form: Uélétt. Dan nannte sie manchmal Miss Uh-la-la, was sie immer zum Lächeln brachte. Ron Stimson, einer der vier Ärzte, die regelmäßig Visite im Hospiz machten, hatte Dan einmal gesagt, Eleanor sei der Beweis dafür, dass das Leben manchmal stärker sei als das Sterben: »Ihre Leberfunktion ist gleich null, ihre Lunge ist nach achtzig Jahren rauchen völlig zerstört, sie hat Darmkrebs – der zwar im Schneckentempo fortschreitet, aber extrem bösartig ist –, und ihre Herzwände sind so dünn wie eine Seifenblase. Trotzdem lebt sie weiter.«

Wenn Azreel recht hatte (und nach Dans Erfahrung täuschte er sich nie), dann lief Eleanors Langzeitpacht aufs Leben nun bald aus, und doch sah sie nicht aus wie eine Frau, die auf der Schwelle stand. Als Dan in ihr Zimmer kam, saß sie aufrecht im Bett und streichelte den Kater. Ihr Haar war adrett in eine Dauerwelle gelegt – tags zuvor war die Friseuse da gewesen –, und ihr rosa Nachthemd war makellos wie immer. Dessen obere Hälfte verlieh ihren blutlosen Wangen auch etwas Farbe, während die untere sich wie ein Ballkleid um ihre spindeldürren Beine bauschte.

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