Doctor Sleep - Страница 57


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»Tag, Becka, hier spricht Dan Torrance.«

»Wenn es um Mrs. Ouellette geht, ich hab heute Morgen eine Mail von …«

»Nein, darum geht es nicht. Ich möchte mir eine Weile freinehmen.«

»Doctor Sleep will sich freinehmen? Kaum zu glauben. Letztes Frühjahr musste ich Sie praktisch vor die Tür setzen, damit Sie Ihren Urlaub nehmen, und trotzdem sind Sie ein- oder zweimal am Tag reingekommen. Geht es um eine Familienangelegenheit?«

Dan, der an Abras Relativitätstheorie dachte, bejahte die Frage.

Kapitel zehn
FIGÜRCHEN AUS GLAS

1

David Stone stand im Bademantel in der Küche und schlug Eier in eine Schüssel, als das Telefon läutete. Im oberen Stockwerk donnerte die Dusche. Wenn Abra ihre übliche Sonntagmorgenroutine befolgte, würde es weiterdonnern, bis ihr das warme Wasser ausging.

Er warf einen Blick auf das Display. Die Vorwahl war die von Boston, aber die folgende Nummer kannte er nicht. Jedenfalls war es nicht der Festnetzanschluss in der Wohnung seiner Schwiegergroßmutter. »Hallo?«

»Ach, David, ich bin so froh, dass ich dich erwische!« Es war Lucy, die völlig erschöpft klang.

»Wo bist du? Warum rufst du nicht von deinem Handy aus an?«

»Im Krankenhaus, an einem Münztelefon. Handys darf man hier nicht benutzen, es hängen überall Schilder.«

»Ist was mit Momo? Oder mit dir?«

»Mir geht’s gut. Was Momo angeht, deren Zustand ist stabil … jetzt jedenfalls … aber eine Weile war es ziemlich schlimm.« Ein Schlucken. »Das ist es immer noch.« Dann brach Lucy zusammen. Sie weinte nicht einfach, sie schluchzte, als wäre in ihr ein Damm gebrochen.

David wartete. Er war froh, dass Abra unter der Dusche stand, und hoffte, dass das warme Wasser noch sehr lange reichte. Das hörte sich wirklich übel an.

Endlich war Lucy wieder in der Lage, etwas zu sagen. »Diesmal hat sie sich den Arm gebrochen.«

»Oh. Aha. Ist das alles?«

»Nein, das ist nicht alles!« Sie schrie ihn fast schon an, und zwar in diesem Wieso-sind-Männer-nur-so-dämlich-Ton, den er auf den Tod nicht ausstehen konnte und den er ihrer italienischen Herkunft zuschrieb, ohne je darüber nachzudenken, dass er gelegentlich vielleicht tatsächlich ziemlich dämlich war.

Er atmete durch, um sich zu beruhigen. »Erzähl’s mir, Schatz.«

Das tat sie, wenngleich sie zweimal wieder in Schluchzen ausbrach und David eine Weile warten musste. Sie war todmüde, aber das war nur ein Teil des Problems. Vor allem, erkannte er, akzeptierte nun auch ihr Bauch, was ihr Kopf schon seit Wochen wusste: Ihre Momo würde wirklich sterben. Und das vielleicht nicht friedlich.

Concetta, die inzwischen nur noch einen extrem leichten Schlaf hatte, war nach Mitternacht aufgewacht und hatte auf die Toilette müssen. Statt den Summer in Lucys Zimmer zu betätigen, damit die ihr die Bettpfanne brachte, hatte sie versucht aufzustehen, um allein ins Bad zu gelangen. Sie hatte es geschafft, die Beine auf den Boden zu bringen und sich aufzusetzen, doch dann war ihr schwindlig geworden, worauf sie vom Bett gefallen und auf dem linken Arm gelandet war. Der war nicht nur gebrochen, sondern regelrecht zertrümmert worden. Lucy, durch den wochenlangen Nachtdienst erschöpft, für den sie nicht ausgebildet war, war von den Schreien ihrer Großmutter aufgewacht.

»Sie hat nicht einfach um Hilfe gerufen«, erzählte Lucy. »Und sie hat auch nicht geschrien. Sie hat gekreischt wie ein Fuchs, dem eins dieser fürchterlichen Tellereisen ein Bein abgerissen hat.«

»Liebling, das muss ja schrecklich gewesen sein!«

Lucy stand im Parterre in einer Nische mit Snack-Automaten und – o Wunder! – einigen funktionierenden Telefonen. Ihr ganzer Körper schmerzte und war mit trocknendem Schweiß bedeckt (sie konnte sich selber riechen, und das war definitiv nicht Light Blue von Dolce & Gabbana), in ihrem Kopf hämmerte die erste Migräne seit vier Jahren. Sie wusste, dass sie Dave nie erzählen konnte, wie schrecklich es tatsächlich gewesen war. Was für eine miserable Erkenntnis sie gehabt hatte. Da bildete man sich ein, über die grundlegende Tatsache Bescheid zu wissen – eine Frau wird alt, sie wird schwach, sie stirbt –, und musste dann feststellen, dass das bei Weitem noch nicht alles war. Das wurde einem klar, wenn die Frau, die einige der großartigsten Gedichte ihrer Generation geschrieben hatte, in einer Pfütze der eigenen Pisse lag und von ihrer Enkeltochter kreischend forderte, dafür zu sorgen, dass der Schmerz aufhört, mach, dass er aufhört, o madre di Cristo, mach, dass er aufhört. Wenn man sah, dass der früher so glatte Unterarm wie ein Waschlappen verdreht war, und wenn man hörte, wie die Dichterin ihn als Scheißding bezeichnete und dann den eigenen Tod herbeiwünschte, damit die Schmerzen aufhörten.

Könntest du deinem Mann erzählen, dass du noch im Halbschlaf warst, als es passiert ist, und du dauernd Angst hattest, alles, was du tust, könnte das Falsche sein? Könntest du ihm erzählen, dass die Frau am Boden dir das Gesicht zerkratzt hat, als du sie anders hinlegen wolltest, und dass sie dabei geheult hat wie ein von einem Auto überfahrener Hund? Könntest du erklären, wie es war, deine geliebte Großmutter auf dem Boden liegen zu lassen, während du den Notruf gewählt und dann neben ihr gehockt hast, um auf den Rettungswagen zu warten? Wie du sie dazu gebracht hast, durch einen Flexhalm in Wasser aufgelöstes Oxycodon zu trinken? Dass der Rettungswagen einfach nicht kam und du an »The Wreck of the Edmund Fitzgerald« dachtest, diesen Song von Gordon Lightfoot mit der Frage, ob irgendjemand weiß, wohin die Liebe Gottes verschwindet, wenn die Wellen die Minuten in Stunden verwandeln? Die Wellen, die Momo überspülten, waren Wellen aus Schmerz; sie ging unter, und die Wellen rollten einfach immer weiter heran.

Als Momo wieder zu schreien anfing, hatte Lucy beide Arme unter sie geschoben und sie aufs Bett gehievt, mit einer unbeholfenen, ruckartigen Bewegung, die sie bestimmt tage-, wenn nicht gar wochenlang in ihren Schultern und im Kreuz spüren würde. Dabei hatte sie die Ohren vor Momos Schreien – Lass mich los, du bringst mich um! – verschlossen. Dann hatte sie sich keuchend und mit an den Wangen klebenden Haarsträhnen hingesetzt und an die Wand gelehnt, während Momo weinte, ihren scheußlich deformierten Arm hielt und fragte, warum Lucia ihr so wehgetan habe und warum sie so etwas erleiden müsse.

Endlich war der Rettungswagen gekommen, und ein Mann – Lucy kannte seinen Namen nicht, dankte ihm jedoch in ihren gestammelten Gebeten von Herzen – hatte Momo eine Spritze gegeben, die sie zum Schweigen brachte. Könntest du dem eigenen Mann erzählen, dass du dir gewünscht hast, die Spritze hätte Momo umgebracht?

»Es war tatsächlich ziemlich schrecklich« war alles, was sie sagte. »Ich bin so froh, dass Abra dieses Wochenende nicht herkommen wollte.«

»Sie wollte eigentlich, aber sie hatte eine Menge Hausaufgaben und musste gestern in die Bücherei. Muss irrsinnig wichtig gewesen sein; du weißt ja, wie sie mich sonst löchert, dass wir zum Footballspiel gehen.« Geplapper. Dämlich. Aber was sollte er sonst sagen? »Lucy, es tut mir unheimlich leid, dass du das allein durchmachen musstest.«

»Es ist bloß … wenn du sie kreischen gehört hättest. Dann würdest du vielleicht verstehen. Ich will nie wieder jemand so kreischen hören. Sie hat es früher immer so toll geschafft, ruhig zu bleiben … einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn alle anderen ausgerastet sind …«

»Ich weiß …«

»Und das alles, um dann doch einzuschrumpfen auf das, was sie heute Nacht war. Die einzigen Wörter, an die sie sich erinnern konnte, waren Schlampe und Scheiße und Pisse und Meretrice und …«

»Denk nicht mehr daran, Schatz.« Im Obergeschoss war das Geräusch der Dusche verstummt. Abra brauchte nun bestimmt nur noch wenige Minuten, um sich abzutrocknen und in ihre Sonntagsklamotten zu schlüpfen; bald würde sie mit flatternden Hemdschößen und Schnürsenkeln heruntergestürmt kommen.

Aber Lucy war noch nicht ganz bereit, nicht mehr daran zu denken. »Ich erinnere mich an ein Gedicht, das sie einmal geschrieben hat. Wort für Wort zitieren kann ich es zwar nicht, aber es hat ungefähr so angefangen: ›Gott ist ein Kenner zerbrechlicher Dinge und verziert seinen wolkigen Blick mit Figürchen aus feinstem Glas.‹ Früher hab ich gedacht, für ein Gedicht von Concetta Reynolds wäre das eine hübsche, wenn auch ziemlich konventionelle Idee, irgendwie sogar ein wenig kitschig.«

Und da war seine Abba-Doo – seine und Lucys Abba-Doo – mit vom Duschen gerötetem Gesicht. »Alles in Ordnung, Daddy?«

David hob die Hand: Moment noch.

»Jetzt weiß ich, was sie wirklich gemeint hat, und ich werde das Gedicht nie wieder lesen können.«

»Abra ist da, Schatz«, sagte gezwungen fröhlich.

»Gut. Ich muss mit ihr sprechen. Mach dir keine Sorgen, ich werde nicht mehr flennen, aber wir können sie vor dieser Sache nicht bewahren.«

»Vielleicht vor dem Schlimmsten davon?«, fragte er vorsichtig. Abra stand am Tisch. Die nassen Haare hatte sie zu zwei Pferdeschwänzen gebunden, mit denen sie wieder wie zehn aussah. Sie hatte eine ernste Miene aufgesetzt.

»Vielleicht«, sagte Lucy. »Aber ich schaffe es einfach nicht mehr, Dave. Nicht mal mit der Hilfe tagsüber. Ich dachte, ich könnte es, aber ich schaffe es nicht. In Frazier, nicht weit von uns, gibt’s ein Hospiz. Die Schwester an der Aufnahme hat mir davon erzählt. Wahrscheinlich haben alle Krankenhäuser eine Liste für genau diese Situation. Jedenfalls, das Hospiz heißt Rivington House. Ich hab dort nachgefragt, bevor ich bei dir angerufen hab, und sie haben gerade heute einen freien Platz bekommen. Offenbar hat Gott heute Nacht ein anderes seiner Glasfigürchen vom Kaminsims gestoßen.«

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