Dan öffnete die Faust. Auf der Medaille stand eine große VI.
»Scheibenkleister«, sagte Billy. »Normalerweise bin ich gut im Raten.«
»Immerhin warst du ziemlich nah dran«, sagte Dan. »Und hier geht’s nicht um Raten, sondern um etwas wie Hellsichtigkeit. Ich nenne es Shining.«
Billy zog seine Zigaretten heraus, warf einen Blick auf den neben ihm sitzenden Arzt und ließ sie wieder verschwinden. »Wenn du meinst …«
»Ich will dir mal was über dich erzählen, Billy. In deiner Kindheit warst du toll im Raten. Du wusstest, wenn deine Mutter gute Laune hatte und du sie um zusätzliches Taschengeld anhauen konntest. Du wusstest, wenn dein Dad schlecht drauf war und du ihm aus dem Weg gehen musstest.«
»Auf jeden Fall hab ich gewusst, wenn es beim Abendessen absolut nicht ratsam gewesen wäre, über den aufgewärmten Schmorbraten zu meckern«, sagte Billy.
»Hast du früher gewettet?«
»Bei Pferderennen unten in Salem. Hab ganz schön was eingestrichen. Aber als ich dann fünfundzwanzig oder so wurde, hab ich’s irgendwie nicht mehr geschafft, die Sieger zu erraten. Als ich mal darum betteln musste, dass man mir die Monatsmiete stundet, hat mich das von meiner Wettsucht geheilt.«
»Ja, wenn man älter wird, nimmt diese Gabe ab, aber du hast immer noch was davon.«
»Du hast mehr«, sagte Billy, nun ohne zu zögern.
»Das meint ihr ernst, ja?«, sagte John. Eigentlich war es keine Frage, sondern eine Beobachtung.
»John, du hast in der kommenden Woche nur eine einzige Patientin, bei der du wirklich das Gefühl hast, dich unbedingt um sie kümmern zu müssen«, sagte Dan. »Ein Mädchen mit Magenkrebs. Sie heißt Felicity …«
»Frederika«, sagte John. »Frederika Bimmel. Sie liegt im Merrimack Valley Hospital. Ich soll eine Konsultation mit ihrem Onkologen und ihren Eltern durchführen.«
»Am Samstagmorgen.«
»Ja, am Samstagmorgen.« Er warf Dan einen verblüfften Blick zu. »Mensch. Donnerwetter. Was du da hast … ich hatte keine Ahnung, dass es so stark ist.«
»Ich verspreche dir, dass du am Donnerstag wieder hier bist. Spätestens am Freitag.«
Falls man uns nicht verhaftet, dachte er. Dann sind wir womöglich etwas länger in Iowa. Er blickte zu Billy hinüber, ob der wohl diesen wenig ermutigenden Gedanken aufgefangen hatte, aber dafür waren keinerlei Anzeichen sichtbar.
»Worum geht es eigentlich?«
»Um eine andere Patientin von dir. Abra Stone. Sie ist wie Billy und ich, John, aber ich glaube, das weißt du schon. Bloß dass sie viel, viel mehr Kraft besitzt. Ich hab schon mehr davon als Billy, aber verglichen mit ihr komme ich mir wie ein Wahrsager auf dem Jahrmarkt vor.«
»Ach du Schande – die Löffel!«
Dan brauchte eine Sekunde, dann erinnerte er sich. »Die hat sie an die Decke gehängt.«
John starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Das hast du gerade in meinen Gedanken gelesen?«
»Nein, es ist leider nicht ganz so spektakulär. Sie hat es mir erzählt.«
»Wann denn? Wann?«
»Dazu kommen wir schon noch. Zuerst wollen wir es mal ein bisschen mit authentischem Gedankenlesen versuchen.« Dan nahm Johns Hand. Das half; ein direkter Körperkontakt tat das fast immer. »Ihre Eltern haben dich konsultiert, als sie noch ein Kleinkind war. Vielleicht war es auch eine Tante oder eine Großmutter. Sie haben sich schon Sorgen um sie gemacht, bevor sie die Küche mit Löffeln dekoriert hat, weil sich in ihrem Haus allerhand übersinnliche Phänomene ereignet haben. Da war etwas mit dem Klavier … Billy, hilf mir da mal.«
Billy griff nach Johns freier Hand. Dan nahm die von Billy, sodass ein Kreis entstand. Eine Miniaturséance in Teenytown.
»Beatles-Musik«, sagte Billy. »Auf dem Klavier statt auf der Gitarre. Es war … weiß auch nicht. Jedenfalls hat es sie eine Weile ganz verrückt gemacht.«
John starrte ihn an.
»Hör mal«, sagte Dan. »Du hast Abras Erlaubnis, mit mir zu sprechen. Sie will, dass du das tust. Bitte vertrau mir, John.«
Darüber dachte John Dalton fast eine ganze Minute nach. Dann erzählte er den beiden alles – mit einer Ausnahme.
Dass einmal auf allen Fernsehsendern die Simpsons gelaufen waren, war einfach zu abgedreht.
4
Als John geendet hatte, stellte er eine naheliegende Frage: Woher kannte Dan Abra Stone?
Dan zog aus seiner Gesäßtasche ein kleines, ramponiertes Notizbuch hervor. Auf dem Deckel prangte ein Foto von ans Ufer brandenden Wellen, darüber das Motto NICHTS GROSSES ENTSTEHT IM AUGENBLICK.
»Das hast du früher immer dabeigehabt, stimmt’s?«, sagte John.
»Ja. Du weißt doch, dass Casey K. mein Sponsor ist, oder?«
John rollte die Augen. »Wer könnte das vergessen, wo du doch, jedes Mal wenn du bei einem Treffen den Mund aufmachst, mit ›Mein Sponsor Casey K. sagt immer …‹ anfängst.«
»John, niemand liebt Klugscheißer.«
»Doch, meine Frau. Weil ich ein äußerst liebevoller Klugscheißer bin.«
Dan seufzte. »Sieh in das Büchlein.«
John blätterte es durch. »Das sind die Treffen, an denen du teilgenommen hast. Von 2001 an.«
»Casey hat mir gesagt, ich muss neunzig Treffen in neunzig Tagen absolvieren und mir alle aufschreiben. Sieh mal beim achten nach.«
John fand es. Es hatte in der Methodistenkirche von Frazier stattgefunden. Dort ging er nicht oft hin, kannte es jedoch. Unter Ort und Datum stand in verschnörkelten Großbuchstaben das Wort ABRA.
John sah Dan einigermaßen ungläubig an. »Sie hat Kontakt mit dir aufgenommen, als sie gerade mal zwei Monate alt war?«
»Du siehst, dass mein nächstes Treffen direkt darunter steht«, sagte Dan. »Also kann ich den Namen nicht später eingefügt haben, um Eindruck bei dir zu schinden. Falls ich nicht das ganze Büchlein gefälscht habe, und es gibt massenhaft Leute im Programm, die mich damit gesehen haben.«
»Mich eingeschlossen«, sagte John.
»Ja, dich eingeschlossen. Damals hatte ich in einer Hand immer mein Notizbuch und in der anderen eine Tasse Kaffee. Das waren meine Sicherungsseile. Ich wusste noch nicht, wer Abra war, und hab auch nicht weiter drüber nachgedacht. Für mich war es bloß eine von vielen zufälligen Berührungen. So wie ein Baby im Bettchen die Hand ausstreckt und einem über die Nase wischt.
Zwei oder drei Jahre später hat sie auf die Schultafel in meinem Zimmer, auf der ich die Namen und Zimmernummern unserer Gäste notiere, ein Wort geschrieben, und zwar: Hallo. Danach ist sie in Kontakt mit mir geblieben wie jemand, der sich ab und zu mal meldet. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie das bewusst getan hat. Aber ich war für sie da. Wenn sie Hilfe brauchte, war ich jemand, den sie kannte und an den sie sich wenden konnte.«
»Was für Hilfe braucht sie eigentlich? In was für Schwierigkeiten steckt sie?« John wandte sich an Billy. »Weißt du es?«
Billy schüttelte den Kopf. »Ich hab nie von ihr gehört, und nach Anniston komme ich praktisch auch nie.«
»Wer hat gesagt, dass Abra in Anniston wohnt?«
Billy zeigte mit dem Daumen auf Dan. »Er hat’s gesagt. Oder etwa nicht?«
John wandte sich wieder an Dan. »Na schön. Ihr habt mich überzeugt. Jetzt will ich alles hören.«
Dan erzählte ihm von Abras Albtraum über Bradley Trevor, den Baseballjungen. Von den schattenhaften Gestalten mit ihren auf ihn gerichteten Taschenlampen. Von der Frau mit dem Messer, die sich das Blut des Jungen von den Handflächen geleckt hatte. Und davon, wie Abra viel später im Shopper auf das Foto des Jungen gestoßen war.
»Und wieso ist ihr das alles zugestoßen? Weil der Junge, den man umgebracht hat, hellsichtig wie sie war?«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass der ursprüngliche Kontakt so hergestellt wurde. Der Junge muss um Hilfe gerufen haben, als er von diesen Leuten gefoltert wurde – Abra zweifelt nicht daran, dass sie das getan haben –, und dadurch ist eine Verbindung entstanden.«
»Eine Verbindung, die selbst bestehen blieb, als der Junge, dieser Bradley Trevor, tot war?«
»Ich glaube, Abras späterer Kontaktpunkt war etwas, was der Junge besessen hat – sein Baseballhandschuh. Über den konnte sie eine Verbindung zu den Mördern herstellen, weil einer von denen den Handschuh angezogen hat. Sie weiß nicht, wie sie es tut, und ich weiß es auch nicht. Ich weiß bloß, dass sie ungeheure Kräfte hat.«
»So wie du selber.«
»Die Sache ist die«, sagte Dan. »Diese Leute – wenn es sich überhaupt um normale Leute handelt – werden von der Frau angeführt, die den Mord begangen hat. An dem Tag, an dem Abra in diesem Anzeigenblatt auf das Bild von Bradley Trevor stieß, ist sie in den Kopf dieser Frau eingedrungen. Und umgekehrt. Einige Sekunden lang haben die beiden durch die Augen der jeweils anderen geblickt.« Er hob die Hände, ballte sie zu Fäusten und ließ sie kreisen. »Hin und her. Abra meint, womöglich wollen die sie schnappen, und ich bin derselben Ansicht. Weil sie eine Gefahr für diese Leute darstellen könnte.«
»Da gibt’s doch noch andere Gründe, oder?«, sagte Billy.
Dan sah ihn an, ohne etwas zu erwidern.
»Wenn jemand hellsichtig ist, dann hat er doch was Besonderes an sich, stimmt’s? Etwas, was diese Leute wollen. Etwas, was sie nur bekommen, wenn sie töten.«
»Ja.«
»Weiß diese Frau, wo Abra steckt?«, fragte John.
»Abra meint nein, aber du musst bedenken, dass sie erst zwölf ist. Sie könnte sich irren.«