»Und weiß Abra, wo sich diese Frau gerade aufhält?«
»Sie weiß nur, dass die Frau in dem Moment, in dem der Kontakt – das gegenseitige Sehen – stattfand, in einer Filiale von Sam’s Supermarket war. Das hieße also irgendwo im Westen, aber die Kette gibt’s in mindestens neun Staaten.«
»Darunter Iowa?«
Dan schüttelte den Kopf.
»Dann weiß ich nicht, was es bringen soll, wenn wir dorthin fahren.«
»Wir können den Handschuh holen«, sagte Dan. »Abra meint, wenn sie den Handschuh hat, kann sie eine Verbindung zu dem Mann herstellen, der ihn kurze Zeit an der Hand hatte. Sie nennt ihn Barry the Chunk.«
John saß mit gesenktem Kopf da und dachte nach. Dan ließ ihn in Ruhe.
»Na gut«, sagte John schließlich. »Das ist zwar völlig verrückt, aber ich glaube es. Angesichts dessen, was ich von Abra weiß und was ich mit dir erlebt habe, wäre es eigentlich sogar schwer, es nicht zu glauben. Aber wenn diese Frau nicht weiß, wo Abra ist, könnte es dann nicht klüger sein, sich ruhig zu verhalten? Schlafende Hunde soll man doch nicht wecken, oder?«
»Ich glaube nicht, dass dieser Hund schläft«, sagte Dan. »Diese
(leeren Teufel)
Irren wollen Abra aus demselben Grund schnappen wie den Jungen – da hat Billy höchstwahrscheinlich recht. Außerdem wissen sie, dass Abra eine Gefahr für sie darstellt. Bei uns im Programm würde man sagen, sie hat die Fähigkeit, die Anonymität dieser Leute zu zerstören. Außerdem verfügen sie vielleicht über Mittel, von denen wir keine Ahnung haben. Möchtest du, dass eine Patientin von dir ständig in Furcht lebt, Monat für Monat und vielleicht sogar Jahr für Jahr, weil sie dauernd damit rechnen muss, dass jeden Augenblick eine Horde paranormaler Irrer auftaucht und sie sich schnappt?«
»Natürlich nicht.«
»Abra sagt, diese Schweine leben von Kindern wie ihr. Von Kindern, wie ich eines war. Kindern mit Shining.« Er starrte John Dalton grimmig an. »Wenn das stimmt, muss man sie aufhalten.«
»Da ich offenbar nicht nach Iowa mitkommen soll, was soll ich dann tun?«, sagte Billy.
»Sagen wir mal so«, antwortete Dan. »Du wirst dich in der kommenden Woche ausführlich mit Anniston vertraut machen. Wenn Casey dir freigibt, nimmst du dir dort am besten ein Motelzimmer.«
5
Rose fand endlich in den meditativen Zustand, um den sie sich bemüht hatte. Am schwersten war es ihr gefallen, die Sorgen um Grampa Flick loszulassen, aber schließlich hatte sie auch die überwunden. Sich über sie erhoben. Nun ruhte sie in sich selbst und rezitierte dabei die uralten Worte – sabbatha hanti und lodsam hanti und cahanna risone hanti – wieder und immer wieder, wobei sie die Lippen kaum bewegte. Es war noch zu früh, dieses nervige Mädchen aufzusuchen, aber da man sie nun allein gelassen hatte und die Welt innen wie außen still war, hatte sie keine Eile. Meditation um ihrer selbst willen war eine schöne Sache. Rose bewegte sich darin umher; langsam und sorgfältig sammelte sie ihre Werkzeuge und richtete ihre Konzentration aus.
Sabbatha hanti, lodsam hanti, cahanna risone hanti: Worte, die schon alt gewesen waren, als der Wahre Knoten in Pferdewagen durch Europa gezogen war und Torfbriketts und billige Schmuckstücke verkauft hatte. Wahrscheinlich waren sie schon alt gewesen, als Babylon jung war. Das Mädchen war zwar mächtig, aber die Wahren waren allmächtig, weshalb Rose nicht mit gravierenden Problemen rechnete. Während die Kleine schlief, würde Rose sich lautlos und verstohlen durch ihr Inneres bewegen, um Informationen zu sammeln und Suggestionen wie kleine Tretminen einzupflanzen. Nicht nur einen einzelnen Wurm, sondern ein ganzes Nest. Manche würde das Mädchen vielleicht entdecken und machte sie unwirksam.
Andere aber nicht.
6
Als Abra an diesem Abend mit ihren Hausaufgaben fertig war, telefonierte sie fast eine Dreiviertelstunde lang mit ihrer Mutter. Das Gespräch bestand aus zwei Ebenen. Auf der oberen sprachen die beiden über den vergangenen Tag, die nächste Schulwoche und Abras Kostüm für die bevorstehende Tanzparty an Halloween; es ging um Pläne, Momo ins Hospiz zu verlegen (für Abra immer noch »Hotspitz«); außerdem unterrichtete Lucy Abra über Momos Zustand, der, wie sie sagte, alles in allem ziemlich gut sei.
Auf der anderen Ebene hörte Abra die quälenden Sorgen ihrer Mutter, dass diese ihre Großmutter auf gewisse Weise im Stich gelassen hatte, und die Wahrheit über Momos Zustand: verängstigt, verwirrt, von Schmerzen gepeinigt. Abra versuchte, ihrer Mutter tröstliche Gedanken zu senden: Lass doch, Mama und Wir haben dich lieb, Mama und Du hast getan, was du konntest, solange du dazu in der Lage warst. Sie hätte gern geglaubt, dass der eine oder andere Gedanke davon durchkam, aber so richtig glaubte sie nicht daran. Abra besaß zwar viele Gaben – solche, die gleichermaßen wunderbar wie unheimlich waren –, aber die Fähigkeit, den Gefühlszustand eines anderen Menschen zu verändern, hatte nie dazugehört.
Ob Dan das wohl tun konnte? Vielleicht konnte er es tatsächlich. Offenbar nutzte er diesen Teil seines Shinings, um den Leuten im Hotspitz zu helfen. Wenn er das wirklich konnte, dann half er vielleicht auch Momo, wenn sie dorthin kam. Das wäre gut.
In dem rosa Flanellpyjama, den Momo ihr letztes Weihnachten geschenkt hatte, ging sie schließlich nach unten. Ihr Vater sah sich gerade ein Spiel der Red Sox an und trank dabei ein Glas Bier. Sie pflanzte ihm einen dicken Schmatz auf die Nase (er behauptete zwar immer, das wäre ihm zuwider, aber sie wusste, dass er es irgendwie mochte) und sagte, sie werde jetzt ins Bett gehen.
»Les Hausaufgaben sont complètes, Mademoiselle?«
»Ja, Daddy, aber das französische Wort für Hausaufgaben ist devoirs.«
»Gut zu wissen, gut zu wissen. Und wie geht es deiner Mutter? Ich frage nur, weil ich allerhöchstens neunzig Sekunden mit ihr gesprochen habe, bevor du mir das Telefon entrissen hast.«
»Es geht ihr ganz gut.« Abra wusste zwar, dass das stimmte, aber sie wusste auch um die Relativität dieser Formulierung. Sie ging auf den Flur zu, dann drehte sie sich noch einmal um. »Sie hat gesagt, Momo war wie ein Figürchen aus Glas.« Das hatte Lucy zwar nicht laut gesagt, aber doch gedacht. »Sie sagt, eigentlich sind wir das alle.«
Dave stellte den Ton des Fernsehers ab. »Tja, das ist wohl wirklich so, aber manche von uns sind aus erstaunlich hartem Glas gemacht. Denk dran, deine Momo hat viele, viele Jahre gesund und munter auf dem Regal gestanden. Und jetzt komm noch mal in meine Arme, Abba-Doo. Ich weiß nicht, ob du eine Umarmung brauchst, aber ich könnte eine gebrauchen.«
7
Zwanzig Minuten später lag sie im Bett neben dem Winnie-Puuh-Nachtlicht, einem Überbleibsel aus ihrer frühesten Kindheit. Sie suchte nach Dan und fand ihn in einem Gemeinschaftsraum, in dem es Puzzles, Zeitschriften, eine Tischtennisplatte und einen großen Fernseher an der Wand gab. Dan spielte mit einigen Hotspitz-Bewohnern Karten.
(hast du mit Doctor John gesprochen?)
(ja übermorgen fliegen wir zusammen nach Iowa)
Dieser Gedanke wurde von dem Bild eines alten Doppeldeckers begleitet. Darin saßen zwei Männer mit altmodischen Fliegerhelmen, Handschuhen und Schutzbrillen. Abra musste lächeln.
(wenn wir dir was mitbringen)
Sie sah das Bild eines Fängerhandschuhs. So hatte der Handschuh des Baseballjungen zwar nicht genau ausgesehen, aber Abra wusste, was Dan damit sagen wollte.
(wirst du dann ausrasten)
(nein)
Lieber nicht. Den Handschuh des toten Jungen in der Hand zu halten würde zwar schrecklich sein, aber sie musste es trotzdem tun.
8
Im Gemeinschaftsraum von Gebäude eins starrte Mr. Braddock Dan an. Auf seinem Gesicht lag jener Ausdruck eines gewaltigen, aber leicht verwirrten Zorns, den nur sehr alte, am Rande der Senilität stehende Leute erfolgreich zustande brachten. »Werfen Sie jetzt endlich ab, Danny, oder sitzen Sie weiter bloß da und stieren in die Ecke, bis die Polkappen schmelzen?«
(gute Nacht Abra)
(gute Nacht Dan grüß Tony von mir)
»Danny?« Mr. Braddock klopfte mit seinen geschwollenen Knöcheln auf den Tisch. »Danny Torrance, bitte kommen, Danny Torrance, over!«
(vergiss nicht den Alarm einzustellen)
»Huhu, Danny«, sagte Cora Willingham.
Dan sah die beiden an. »Hab ich abgeworfen, oder bin ich noch dran?«
Mr. Braddock warf Cora augenrollend einen Blick zu, den sie ebenfalls augenrollend erwiderte.
»Und meine Töchter denken, ich hätte allmählich nicht mehr alle Tassen im Schrank!«, sagte sie.
9
Abra hatte die Weckfunktion ihres iPads aktiviert, weil morgen nicht nur ein Schultag war, sondern auch einer der Tage, an denen sie mit dem Frühstückmachen dran war – geplant war Rührei mit Champignons, Paprikaschoten und Monterey Jack. Aber das war nicht der Alarm, von dem Dan gesprochen hatte. Sie schloss die Augen, runzelte die Stirn und konzentrierte sich. Eine ihrer Hände kroch unter der Decke hervor und begann, über ihre Lippen zu wischen. Was sie da tat, war knifflig, aber vielleicht war es den Versuch wert.
Ein Alarm war gut und schön, aber wenn die Frau mit dem Hut nach ihr suchte, war eine Falle eventuell noch besser.
Nach etwa fünf Minuten glätteten sich die Falten auf ihrer Stirn, und ihre Hand sank vom Mund weg. Sie drehte sich auf die Seite und zog die Bettdecke bis zum Kinn. Während sie einschlief, stellte sie sich vor, dass sie in voller Kriegerrüstung auf einem weißen Hengst ritt. Winnie Puuh wachte auf seinem Platz auf der Kommode, wie er es seit ihrem fünften Lebensjahr tat, und warf einen schwachen Lichtschein auf ihre linke Wange. Das und ihre Haare waren das Einzige von ihr, was noch sichtbar war.