Doctor Sleep - Страница 62


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In ihren Träumen galoppierte sie über weite Felder unter vier Milliarden Sternen.

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Rose setzte ihre Meditationen an diesem frühen Montagmorgen bis um halb zwei fort. Die übrigen Mitglieder des Wahren Knotens (mit Ausnahme von Apron Annie und Big Mo, die sich momentan um Grampa Flick kümmerten) schliefen tief und fest, als sie beschloss, dass sie bereit war. In einer Hand hielt sie ein Foto – mithilfe ihres Computers ausgedruckt – des nicht sehr eindrucksvollen Stadtzentrums von Anniston, New Hampshire. In der anderen hielt sie eine Flasche. Obwohl die nur noch einen minimalen Hauch Steam enthielt, zweifelte sie nicht daran, dass der ausreichen würde. Sie legte die Finger an das Ventil und bereitete sich darauf vor, es zu öffnen.

Wir sind der Wahre Knoten, und wir dauern fort: Sabbatha hanti.

Wir sind die Auserwählten: Lodsam hanti.

Wir sind die Glückseligen: Cahanna risone hanti.

»Nimm das, und nutze es gut, Rosie«, sagte sie zu sich selbst. Als sie am Ventil drehte, entwich ein kurzer Seufzer aus silbernem Dunst. Sie atmete ein, sank auf ihr Kissen zurück und ließ die Flasche auf den Boden fallen, wo sie mit einem leisen, dumpfen Geräusch aufkam. Sie hob das Bild der Hauptstraße von Anniston an ihre Augen. Ihr Arm und ihre Hand waren nicht mehr so richtig vorhanden, weshalb das Bild zu schweben schien. Nicht weit von dort wohnte ein Mädchen in einer Straße, die wahrscheinlich den Namen Richland Court trug. Die Kleine schlief vermutlich fest, aber irgendwo in ihrem Kopf war Rose the Hat. Die nahm an, dass das Mädchen nicht wusste, wie Rose the Hat aussah (genauso wenig wie Rose wusste, wie das Mädchen aussah … zumindest noch nicht), aber sie wusste, wie Rose the Hat sich anfühlte. Außerdem wusste sie, was Rose gestern im Supermarkt betrachtet hatte. Das war ihr Wegweiser, ihr Eingang.

Mit starrem, träumerischem Blick betrachtete Rose das Bild von Anniston, aber wonach sie wirklich suchte, war die Fleischtheke im Supermarkt, an der JEDES STEAK EIN COWBOY-STEAK VON EXZELLENTER QUALITÄT war. Sie suchte nach sich selbst. Und nach erfreulich kurzer Suche fand sie sich. Zuerst war es eine akustische Spur, der Klang von seichter Supermarkt-Muzak. Dann ein Einkaufswagen. Dahinter war noch alles dunkel. Das war in Ordnung, der Rest würde schon noch kommen. Rose folgte der Muzak, die nun in der Ferne hallte.

Es war dunkel, es war dunkel, es war dunkel, dann wurde es ein wenig heller und noch ein wenig heller. Da war der Gang zwischen den Regalen, der zu einem Korridor wurde, und da wusste sie, dass sie fast drin war. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

Auf ihrem Bett liegend, schloss sie die Augen, damit das Mädchen nichts sah, falls es merkte, was geschah. Das war unwahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich. Rose nahm sich einige Sekunden Zeit, ihre wichtigsten Ziele Revue passieren zu lassen: Name, genauer Aufenthaltsort, der Informationsstand der Kleinen und die Leute, denen sie sich offenbart hatte.

(dreh dich Welt)

Sie nahm alle Kraft zusammen und schob an. Diesmal war das Gefühl des Drehens keine Überraschung, sondern etwas, was sie geplant und vollständig unter Kontrolle hatte. Einen Moment lang war sie noch in jenem Korridor – der Verbindung zwischen ihren Gedanken und denen des Mädchens –, doch dann landete sie in einem großen Raum, in dem ein Mädchen mit Zöpfen Fahrrad fuhr und dabei ein albernes Liedchen trällerte. Das war der Traum des Mädchens, den Rose beobachtete. Aber sie hatte Besseres zu tun. Die Wände des Raums waren keine echten Wände, sondern sozusagen Aktenschränke mit Schubladen. Die konnte sie nun, da sie im Innern war, nach Belieben öffnen. Das Mädchen träumte ruhig in Rose’ Kopf, es träumte, dass es wieder fünf war und auf seinem ersten Fahrrad fuhr. Das war ausgezeichnet. Träum weiter, kleine Prinzessin!

Das Kind fuhr la-la-la singend an ihr vorbei, ohne etwas zu sehen. Sein Fahrrad hatte Stützräder, die jedoch abwechselnd flackernd auftauchten und verschwanden. Wahrscheinlich träumte das Prinzesschen von dem Tag, an dem es endlich gelernt hatte, ohne Stütze Fahrrad zu fahren. Das war immer ein wunderschöner Tag im Leben eines Kindes.

Freu dich über dein Fahrrad, Schätzchen, während ich alles über dich herausbekomme.

Voller Selbstvertrauen zog Rose eine der Schubladen auf.

In dem Augenblick, in dem sie hineingriff, begann ein ohrenbetäubender Alarm zu kreischen. Überall im Raum flammten grelle weiße Scheinwerfer auf, die sie mit Hitze und Licht übergossen. Zum ersten Mal in sehr, sehr vielen Jahren war Rose the Hat, einst Rose O’Hara aus der County Antrim in Nordirland, von etwas völlig unvorbereitet getroffen worden. Bevor sie die Hand aus der Schublade ziehen konnte, schlug diese krachend zu. Der Schmerz war gewaltig. Sie schrie auf und zuckte zurück, aber sie wurde festgehalten.

Ihr Schatten sprang an der Wand hoch, aber nicht nur ihrer. Sie wandte den Kopf und sah, wie das Mädchen sich auf sie stürzte. Bloß war es gar kein Mädchen mehr. Es war eine junge Frau, die ein Lederwams mit einem Drachen auf der sich wölbenden Brust trug und ein blaues Band um die Haare. Das Fahrrad war zu einem weißen Hengst geworden. Ihre Augen loderten wie die einer Kriegerin.

Die Kriegerin hatte eine Lanze in der Hand.

(du bist wiedergekommen Dan hat das vorausgesagt und da bist du)

Und dann – unglaublich für einen Tölpel, selbst wenn er noch so voller Steam war – Vergnügen.

(GUT)

Das Kind, das jetzt kein Kind mehr war, hatte auf der Lauer gelegen. Es hatte eine Falle aufgestellt, es wollte Rose töten … und in diesem Zustand mentaler Verletzbarkeit konnte es das wahrscheinlich sogar.

Rose bot alle ihre Kraft auf, um sich zu wehren, nicht mit einer Lanze wie aus einem Comic, sondern mit einem stumpfen Rammbock, hinter dem all ihre Lebensjahre und ihr ganzer Wille standen.

(WEG VON MIR! WEG VON MIR VERFLUCHT NOCH MAL! EGAL WAS DU DENKST DU BIST BLOSS EIN KLEINES MÄDCHEN!)

Die erwachsene Vision, die das Mädchen von sich hatte – ihr Avatar –, stürmte weiter an, zuckte jedoch zusammen, als Rose’ Gedanke sie traf, und die Lanzenspitze krachte an die Wand des Aktenschranks links von Rose und nicht in deren linke Seite, wohin sie gezielt hatte.

Das Kind (mehr ist es nicht, sagte Rose sich unablässig) lenkte sein Ross weg, und Rose wandte sich der Schublade zu, in der sie sich verfangen hatte. Sie stemmte ihre freie Hand darüber an die Wand und zog mit aller Kraft, ohne auf den Schmerz zu achten. Zuerst bewegte die Schublade sich keinen Millimeter. Dann gab sie ein Stück nach, und Rose war in der Lage, ihren Handballen herauszuziehen. Der war zerschrammt und blutete.

Da geschah noch etwas anderes. In ihrem Kopf bildete sich eine flatternde Empfindung, als würde ein Vogel darin herumfliegen. Was für ein Scheiß war das jetzt wieder?

In der Erwartung, dass sich diese verfluchte Lanze jeden Augenblick in ihren Rücken bohrte, zerrte Rose abermals mit aller Kraft. Ihre Hand glitt ganz heraus, und sie ballte gerade noch rechtzeitig die Finger zur Faust. Hätte sie auch nur eine Sekunde gewartet, so wären die Finger von der wieder zuknallenden Schublade abgetrennt worden. Rose’ Fingernägel pochten, und wenn sich später die Gelegenheit ergab, sie zu betrachten, so waren sie bestimmt von Blutergüssen ganz violett.

Sie drehte sich um. Das Mädchen war fort. Der Raum war leer. Nur diese flatternde Empfindung dauerte noch an. Die hatte sich sogar verstärkt. Plötzlich waren die Schmerzen in Hand und Handgelenk das Letzte, woran Rose dachte. Sie war nicht die Einzige, die auf der Drehscheibe woandershin gereist war, und da war es völlig schnuppe, dass ihre Augen da hinten in der realen Welt, wo sie auf ihrem Doppelbett lag, immer noch geschlossen waren.

Dieses verfluchte Balg war in einem anderen Raum voller Aktenschubladen.

In ihrem Raum. In ihrem Kopf.

Rose war nicht wie geplant zur Einbrecherin geworden, jemand hatte bei ihr eingebrochen.

(RAUS HIER RAUS HIER RAUS RAUS RAUS)

Das Flattern hörte nicht auf, es beschleunigte sich. Rose stieß ihre Panik weg, rang um Klarheit und Konzentration, fand ein klein wenig davon. Gerade genügend, die Drehscheibe wieder in Bewegung zu setzen, obwohl diese merkwürdig schwer geworden war.

(dreh dich Welt)

Sobald das geschah, spürte sie, wie das unerträgliche Flattern in ihrem Kopf zuerst nachließ und dann aufhörte, während das Mädchen dorthin zurückbefördert wurde, wo es hergekommen war.

Bloß ist es in Wirklichkeit nicht so gelaufen, und diese Sache ist viel zu ernst, als dass du dir den Luxus erlauben könntest, dich selber zu belügen. Du bist zu diesem Mädchen gegangen. Und direkt in eine Falle getappt. Weshalb? Weil du die Lage trotz allem, was du wusstest, unterschätzt hast.

Rose öffnete die Augen, setzte sich auf und stellte die Füße auf den Teppichboden. Dabei stieß sie an die leere Flasche und kickte sie weg. Das Sidewinder-T-Shirt, das sie sich übergestreift hatte, war feucht; sie stank nach Schweiß. Es war ein schweineartiger Geruch, völlig reizlos. Ungläubig betrachtete sie ihre Hand, die zerkratzt, blutunterlaufen und geschwollen war. Die Farbe ihrer Fingernägel verwandelte sich allmählich von Violett in Schwarz. Wahrscheinlich verlor sie mindestens zwei davon.

»Aber ich hab es nicht gewusst«, sagte sie. »Ich konnte es nicht wissen.« Der weinerliche Ton, den sie in ihrer Stimme hörte, war ihr abgrundtief zuwider. Das war die Stimme einer maulenden alten Frau. »Absolut nicht.«

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