Doctor Sleep - Страница 63


К оглавлению

63

Sie musste aus diesem verfluchten Wohnmobil raus. Es war zwar das größte und luxuriöseste auf der Welt, fühlte sich momentan jedoch so an, als wäre es nicht größer als ein Sarg. Rose taumelte zur Tür, wobei sie sich an den Möbeln festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Bevor sie hinausging, warf sie einen Blick auf die eingebaute Digitaluhr. Zehn vor zwei. Alles war innerhalb von lediglich zwanzig Minuten geschehen. Unglaublich.

Wie viel hat sie wohl herausbekommen, bevor ich mich von ihr befreit habe? Wie viel weiß sie?

Darauf war keine konkrete Antwort möglich, aber selbst ein geringes Wissen konnte gefährlich sein. Dieses Balg musste außer Gefecht gesetzt werden, und zwar bald.

Rose trat hinaus in das bleiche frühe Mondlicht und tat in der frischen Luft tiefe, beruhigende Atemzüge. Allmählich fühlte sie sich wieder besser, etwas selbstsicherer, aber diese flatternde Empfindung ließ sie nicht los. Dieses Gefühl, jemand in sich drin zu haben – und dann auch noch einen Tölpel! –, der in ihren privaten Dingen herumschnüffelte. Der Schmerz war schlimm gewesen und die Überraschung darüber, derart in die Falle gelockt worden zu sein, noch schlimmer, aber am allerschlimmsten waren die Demütigung und das Gefühl, missachtet worden zu sein. Man hatte sie bestohlen.

Dafür wirst du bezahlen, Prinzesschen. Du hast dich gerade mit dem falschen Miststück angelegt.

Eine Gestalt bewegte sich auf sie zu. Rose hatte sich auf die oberste Stufe ihres Wohnmobils gesetzt, erhob sich nun jedoch, angespannt und auf alles vorbereitet. Dann kam die Gestalt näher, und sie sah, dass es Crow war. Er trug lediglich eine Schlafanzughose und Pantoffeln.

»Rose, ich glaube, du solltest …« Er hielt inne. »Was ist denn da mit deiner Hand passiert?«

»Das geht dich einen Scheißdreck an«, zischte sie. »Was hast du hier um zwei Uhr in der Nacht eigentlich zu suchen? Vor allem, da du wusstest, dass ich beschäftigt bin?«

»Es geht um Grampa Flick«, sagte Crow. »Apron Annie sagt, er liegt im Sterben.«

Kapitel elf
THOME 25

1

Statt nach Raumspray mit Fichtenduft und Zigarren Marke Alcazar roch Grampa Flicks Fleetwood-Wohnmobil an diesem Morgen nach Scheiße, Krankheit und Tod. Außerdem war es überfüllt. Mindestens ein Dutzend Mitglieder des Wahren Knotens hatten sich eingefunden. Einige hatten sich um das Bett des Alten versammelt, weitere saßen oder standen im Wohnbereich und tranken Kaffee. Die übrigen hielten sich draußen auf. Alle sahen fassungslos und beklommen drein. An den Tod waren die Wahren einfach nicht gewöhnt.

»Raus hier«, sagte Rose. »Crow und Nut – ihr bleibt da.«

»Seht ihn nur an«, sagte Petty the Chink mit zitternder Stimme. »Diese Flecke! Und er kreist wie irre, Rose! Ach, ist das schrecklich!«

»Nun geh schon«, sagte Rose sanft. Sie drückte Petty tröstend die Schulter, obwohl sie ihrem fetten Arsch am liebsten einen Tritt verpasst hätte, um ihn aus der Tür zu befördern. Petty war faul und geschwätzig, zu nichts anderem zu gebrauchen als dazu, Barrys Bett zu wärmen, und wahrscheinlich machte sie nicht einmal das besonders gut. Ihre Spezialität war wohl eher das Nörgeln. Wenn sie nicht gerade eine Höllenangst hatte jedenfalls.

»Auf geht’s, Leute«, sagte Crow. »Wenn er tatsächlich stirbt, braucht er das nicht mit Publikum zu tun.«

»Er wird es schaffen«, sagte Harpman Sam. »Grampa Flick ist zäher als ein altes Suppenhuhn.« Aber er legte den Arm um Baba the Red, die erschüttert wirkte, und zog sie einen Moment lang eng an sich.

Dann setzten sich alle in Bewegung. Manche warfen einen letzten Blick über die Schulter, bevor sie die Stufen hinuntergingen, um sich zu den anderen zu gesellen. Als sie nur noch zu dritt waren, trat Rose ans Bett.

Grampa Flick starrte zu ihr empor, ohne sie zu sehen. Seine Lippen hatten sich vom Zahnfleisch zurückgezogen. Große Büschel seiner dünnen weißen Haare waren ausgefallen und lagen auf dem Kopfkissen, was ihm das Aussehen eines an Staupe erkrankten Hundes verlieh. Die Augen waren riesig, feucht und von Schmerz erfüllt. Bis auf ein Paar Boxershorts war er nackt. Der dürre Körper war mit roten Flecken übersät, die wie Pickel oder Mückenstiche aussahen.

Rose wandte sich an Walnut und sagte: »Was zum Teufel ist das denn?«

»Koplik-Flecke«, sagte er. »Den Eindruck hab ich jedenfalls. Obwohl die normalerweise bloß im Mund zu sehen sind.«

»Drück dich klarer aus.«

Nut fuhr sich mit den Händen durch sein schütteres Haar. »Ich glaube, er hat die Masern.«

Rose schnappte entsetzt nach Luft, dann brach sie in bellendes Lachen aus. Sie hatte keine Lust, sich diesen Scheißdreck anzuhören; sie wollte Aspirin für ihre Hand, die bei jedem Herzschlag einen Schmerzimpuls aussandte. Bei dem Anblick musste sie an die Hände von Comicfiguren denken, wenn man sie mit dem Hammer bearbeitet hatte. »Wir fangen uns doch keine Tölpelkrankheiten ein!«

»Tja … früher haben wir das tatsächlich nie getan.«

Sie starrte ihn wütend an. Sie wollte ihren Hut, ohne den sie sich nackt fühlte, aber der war in ihrem EarthCruiser geblieben.

»Ich kann dir bloß sagen, was ich sehe«, sagte Nut. »Und das sind Masern.«

Eine Tölpelkrankheit. Unglaublich.

»Das ist doch einfach … Schwachsinn!«

Nut zuckte zusammen, was kein Wunder war. Sie hörte sich selbst in den eigenen Ohren schrill an, aber … ach, du lieber Himmel, Masern? Da starb das älteste Mitglied des Wahren Knotens an einer Kinderkrankheit, die selbst Kinder heute kaum noch bekamen?

»Dieser Junge mit dem Baseballhandschuh in Iowa hatte ein paar Flecke auf der Haut, aber ich hätte nie gedacht, wir könnten … weil es ja wirklich so ist, wie du sagst. Wir stecken uns nicht mit ihren Krankheiten an.«

»Das ist Jahre her!«

»Ich weiß. Nur kann ich mir vorstellen, dass die Keime im Steam von diesem Jungen waren und so irgendwie überwintert haben. Es gibt nämlich Krankheiten, die so was tun. Sie bleiben passiv, manchmal mehrere Jahre lang, bevor sie plötzlich ausbrechen.«

»Bei Tölpeln vielleicht!« Das wiederholte sie nun schon zum x-ten Mal.

Walnut schüttelte nur den Kopf.

»Wenn Gramps es hat, wieso haben wir es dann nicht alle? Bei Tölpeln verbreiten sich diese Kinderkrankheiten – Windpocken, Masern, Mumps – doch im Handumdrehen. Das ist einfach unlogisch.« Sie sah Crow Daddy an und widersprach sich sofort selbst. »Sag mal, was hast du dir eigentlich dabei gedacht, die anderen hier rumstehen und seine Luft atmen zu lassen?«

Crow zuckte bloß die Achseln, ohne den Blick von dem zitternden alten Mann auf dem Bett abzuwenden. Sein schmales, wohlgeformtes Gesicht wirkte nachdenklich.

»Alles verändert sich«, sagte Nut. »Bloß weil wir vor fünfzig oder hundert Jahren immun gegen Tölpelkrankheiten waren, heißt das noch lange nicht, dass wir es jetzt noch sind. Schließlich könnte das Teil eines natürlichen Vorgangs sein.«

»Willst du damit etwa sagen, an dem Zustand ist etwas Natürliches dran?« Sie deutete auf Grampa Flick.

»Ein Einzelfall ist noch keine Epidemie«, sagte Nut. »Und es könnte ja tatsächlich etwas anderes sein. Aber wenn es noch mal vorkommen sollte, müssen wir den Betroffenen unter strenge Quarantäne stellen.«

»Würde das was bringen?«

Er zögerte lange. »Ich weiß nicht recht. Vielleicht haben wir es alle. Vielleicht ist es wie ein gestellter Wecker oder wie Dynamit mit einem Zeitzünder. Laut neuesten wissenschaftlichen Theorien ist dies auch die Art, in der Tölpel altern. Sie leben vor sich hin, ohne dass sich groß was ändert, und dann schaltet sich etwas, was in ihren Genen steckt, plötzlich an. Schon tauchen Runzeln auf, und mit einem Mal brauchen sie einen Stock zum Gehen.«

Crow hatte währenddessen Grampa beobachtet. »Da geht er hinüber. Scheiße!«

Grampa Flicks Haut wurde milchig. Dann durchscheinend. Als sie allmählich vollständig transparent wurde, konnte Rose seine Leber, die verschrumpelten, grauschwarzen Säcke seiner Lunge und den pulsierenden, roten Knoten seines Herzens sehen. Sie konnte seine Venen und Arterien sehen wie die Highways und Schnellstraßen auf dem Navigationssystem im Fahrerhaus ihres Wohnmobils. Und die Sehnerven, die von den Augen zum Gehirn führten, sahen aus wie gespenstische Bindfäden.

Dann kehrte er zurück. Die Augen bewegten sich, richteten sich auf Rosie und hielten ihren Blick fest. Er griff nach ihrer unverletzten Hand. Ihr erster Impuls bestand darin, sie wegzuziehen – wenn er das hatte, was Nut meinte, dann war er ansteckend –, aber scheiß drauf. Wenn Nut recht hatte, waren sie dem ohnehin alle bereits ausgesetzt gewesen.

»Rose«, flüsterte er. »Lass mich nicht allein.«

»Tu ich bestimmt nicht.« Sie setzte sich aufs Bett und verschränkte ihre Finger mit seinen. »Crow?«

»Ja, Rose.«

»Das Päckchen, das du nach Sturbridge geschickt hast – das wird man dort doch eine Weile aufbewahren, oder?«

»Klar.«

»Na gut, dann bringen wir das hier erst zu Ende. Aber wir können es uns nicht leisten, zu lange zu warten. Dieses Mädchen ist wesentlich gefährlicher, als ich dachte.« Sie seufzte. »Wieso treten Probleme bloß immer im Rudel auf?«

»Das mit deiner Hand, hat sie das etwa irgendwie gemacht?«

Das war eine Frage, die Rose nicht beantworten wollte. »Ich werde nicht mitfahren können, weil die Kleine mich jetzt kennt.« Außerdem, dachte sie, ohne es zu sagen, wenn Walnut recht hat, braucht man mich hier, um Mutter Courage zu spielen. »Aber wir müssen sie uns schnappen. Das ist wichtiger denn je.«

63