Doctor Sleep - Страница 74


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Oder vielleicht doch, dachte er. Wer weiß, vielleicht doch.

»Wie das?«

»Ihre Tochter muss nicht mit uns mitkommen, um bei uns zu sein. Dafür sorgt ihre einzigartige Gabe. Abra, hast du eine Freundin, die du morgen nach der Schule besuchen könntest? Bei der du vielleicht sogar übernachten kannst?«

»Klar – Emma Deane.« An dem erregten Funkeln ihrer Augen sah er, dass sie bereits begriffen hatte, was er plante.

»Abgelehnt«, sagte Dave. »Ich lasse sie nicht unbewacht.«

»Abra wurde schon bewacht, während wir in Iowa waren«, sagte John.

Abras Augenbrauen zuckten in die Höhe, und die Kinnlade klappte ihr herunter. Als Dan das sah, freute er sich. Bestimmt hätte sie jederzeit in seinen Gedanken stöbern können, wenn sie es wollte, aber sie hatte sich an seine Bitte gehalten, es nicht zu tun.

Er zog sein Handy aus der Tasche und drückte eine der Kurzwahltasten. »Billy? Komm doch mal rein. Wir feiern hier nämlich gerade eine kleine Party.«

Drei Minuten später betrat Billy Freeman das Eigenheim der Stones. Er trug Jeans, darüber ein rotes Flanellhemd, das ihm fast bis zu den Knien reichte, und eine Mütze mit dem Aufdruck TEENYTOWN RAILWAY, die er abnahm, bevor er Dave und Abra die Hand schüttelte.

»Du hast ihm mal geholfen, als er ziemlich krank war«, sagte Abra und sah Dan an. »Daran erinnere ich mich noch.«

»Also hast du doch in meine Gedanken gelinst«, sagte Dan.

Sie wurde rot. »Nicht absichtlich. Noch nie. Manchmal … passiert es einfach.«

»Als ob ich das nicht wüsste!«

»Nichts für ungut, Mr. Freeman«, sagte Dave. »Aber Sie sind irgendwie zu alt für einen Bodyguard, und schließlich geht es hier um meine Tochter.«

Billy hob seine Hemdschöße. Zum Vorschein kam eine Pistole in einem abgewetzten schwarzen Holster. »Ein Colt M eins-neun-eins-eins«, sagte er. »Vollautomatik. Hat den Zweiten Weltkrieg mitgemacht. Das Ding ist auch schon ziemlich alt, aber es funktioniert ausgezeichnet.«

»Abra?«, sagte John. »Meinst du, man kann diese Kreaturen mit Kugeln töten, oder sind dazu nur Kinderkrankheiten in der Lage?«

Abra beäugte die Waffe. »O ja«, sagte sie. »Man kann sie durchaus erschießen. Es sind ja keine Geisterleute. Sie sind genauso wirklich, wie wir es sind.«

John sah Dan an. »Du hast wahrscheinlich keine Schusswaffe, oder?«

Dan schüttelte den Kopf und sah zu Billy hinüber.

»Ich hab eine Jagdflinte, die ich dir leihen könnte«, sagte Billy.

»Tja, das … reicht eventuell nicht aus«, sagte Dan.

Billy dachte nach. »Also, ich kenne jemand unten in Madison. Der kauft und verkauft größere Dinger. Teilweise viel größere.«

»Oje«, sagte Dave. »Das wird ja immer schlimmer.« Mehr sagte er jedoch nicht.

»Billy«, sagte Dan. »Können wir morgen den Zug reservieren, um bei Sonnenuntergang am Wolkentor ein Picknick zu veranstalten?«

»Klar. Das machen viele Leute, besonders in der Nachsaison, wenn die Preise niedriger sind.«

Abra lächelte. Den Ausdruck hatte Dan schon einmal an ihr gesehen. Es war ihr zorniges Lächeln. Er fragte sich, ob der Wahre Knoten es sich wohl anders überlegt hätte, wenn er gewusst hätte, dass sie ein solches Lächeln im Repertoire hatte.

»Gut«, sagte sie. »Gut!«

»Abra?« Dave sah verblüfft und leicht verängstigt drein. »Was willst du damit sagen?«

Abra ignorierte ihn fürs Erste. Stattdessen wandte sie sich an Dan: »Sie verdienen nichts anderes nach allem, was sie dem Baseballjungen angetan haben.« Sie wischte sich mit der Hand über den Mund, als wollte sie ihr Lächeln auslöschen, doch als sie die Hand wegzog, war es immer noch da. Zwischen ihren schmal gewordenen Lippen sah man die Spitzen ihrer Zähne. Sie ballte die Hand zur Faust.

»Sie haben es nicht anders verdient.«

Teil drei
FRAGEN UM LEBEN UND TOD

Kapitel dreizehn
AM WOLKENTOR

1

Die Niederlassung von EZ Mail Services befand sich in einem Einkaufszentrum zwischen Starbucks und O’Reillys Autoteilehandel. Crow betrat sie kurz nach zehn Uhr vormittags, zeigte seinen Ausweis mit dem Namen Henry Rothman vor, unterschrieb den Empfang eines Päckchens von der Größe eines Schuhkartons und ging damit unter dem Arm wieder hinaus. Trotz der Klimaanlage stank es im Winnebago inzwischen nach Barrys Krankheit, aber sie hatten sich daran gewöhnt und rochen es kaum noch. Das Päckchen trug den Absender eines Sanitärversands in Flushing, New York. Die betreffende Firma existierte tatsächlich, hatte mit der Sendung jedoch nichts zu tun. Crow, Snakebite Andi und Jimmy Numbers sahen zu, während Nut mit seinem Schweizer Offiziersmesser das Packband aufschlitzte und den Deckel aufklappte. Er holte erst ein Stück Luftpolsterfolie heraus, dann eine doppelte Watteschicht. Darunter lagen in einer Styroporform eine große, unetikettierte Flasche mit einer strohfarbenen Flüssigkeit, acht Spritzen, acht Injektionspfeile und der dazugehörige Schussapparat.

»Heiliger Strohsack, das reicht ja aus, eine ganze Schulklasse nach Mittelerde zu befördern«, sagte Jimmy.

»Rose hat großen Respekt vor dieser kleinen Göre«, sagte Crow. Er nahm die Betäubungspistole aus ihrem Styroporbett, untersuchte sie und legte sie wieder zurück. »Also nehmen wir uns ein Beispiel daran.«

»Crow!« Barrys Stimme klang belegt und heiser. »Komm mal her!«

Crow überließ Walnut den Inhalt der Schachtel und ging zu dem auf dem Bett schwitzenden Kranken. Der war inzwischen mit Hunderten hellroter Flecke bedeckt. Die Augen waren fast zugeschwollen, die verfilzten Haare klebten ihm an der Stirn. Crow spürte, wie das Fieber in ihm wütete, aber Barry war wesentlich kräftiger, als Grampa Flick es gewesen war. Er kreiste immer noch nicht.

»Geht’s euch noch gut?«, fragte Barry. »Kein Fieber? Keine Flecke?«

»Nichts dergleichen. Mach dir keine Sorgen um uns, du musst dich ausruhen. Vielleicht ein bisschen schlafen.«

»Ich schlafe, wenn ich tot bin, und das bin ich noch nicht.« Barrys blutunterlaufene Augen glänzten. »Ich kann sie jetzt auffangen.«

Crow ergriff Barrys Hand, ohne weiter nachzudenken, nahm sich vor, sie später mit heißem Wasser und viel Seife zu waschen, und fragte sich dann, was das wohl nützen könnte. Schließlich atmeten sie alle die Luft ein, die Barry ausatmete, und hatten ihm alle abwechselnd geholfen, aufs Klo zu gehen. Sie hatten ihn überall angefasst. »Weißt du, welches der drei Mädchen es ist? Kennst du ihren Namen?«

»Nein.«

»Weiß sie, dass wir sie holen kommen?«

»Nein. Hör auf, Fragen zu stellen, und lass mich endlich sagen, was ich wirklich weiß. Sie denkt an Rose, deshalb konnte ich sie anpeilen, aber sie weiß ihren Namen nicht. ›Die Frau mit dem Hut und dem einen langen Zahn‹, so nennt sie sie. Die Kleine …« Barry drehte sich zur Seite und hustete in sein feuchtes Taschentuch. »Die Kleine fürchtet sich vor Rose.«

»Nicht ohne Grund«, sagte Crow grimmig. »Sonst noch was?«

»Schinkensandwichs. Russische Eier.«

Crow wartete.

»Ich bin mir noch nicht sicher, aber ich glaube … sie plant irgendwo ein Picknick. Vielleicht mit ihren Eltern. Dort fahren sie mit einer … einer Spielzeugeisenbahn hin?« Barry runzelte die Stirn.

»Was für eine Spielzeugeisenbahn? Wo?«

»Keine Ahnung. Wenn wir näher kommen, weiß ich es. Ganz bestimmt.« Barrys Hand drehte sich in der von Crow und drückte diese plötzlich so fest nach unten, dass es fast wehtat. »Vielleicht kann sie mir helfen, Daddy. Wenn ich durchhalte und ihr sie schnappen könnt … wenn ihr sie genügend foltert, dass sie etwas Steam ausatmet … dann werde ich vielleicht …«

»Ja, kann gut sein«, sagte Crow, aber als er nach unten blickte, sah er – nur eine Sekunde lang – die Knochen in Barrys klammernden Fingern.

2

An diesem Freitag verhielt Abra sich in der Schule außergewöhnlich still. Keiner der Lehrer fand das merkwürdig, obwohl sie normalerweise lebhaft und ein ziemliches Plappermaul war. Ihr Vater hatte am Morgen bei der Schulschwester angerufen und sie gebeten, allen Lehrern zu sagen, sie sollten Abra etwas schonen. Sie wolle in die Schule gehen, aber sie hätten gestern schlechte Nachrichten über Abras Urgroßmutter erhalten. »Damit muss sie erst einmal fertigwerden«, hatte Dave gesagt.

Die Schwester hatte ihr Verständnis geäußert und ihm versichert, es weiterzugeben.

In Wirklichkeit brauchte Abra an diesem Tag alle Konzentration, um zur selben Zeit an zwei Orten zu sein. Das war, wie sich gleichzeitig den Kopf zu tätscheln und den Bauch zu reiben; anfangs schwer, aber nicht allzu schwierig, wenn man den Dreh einmal heraushatte.

Ein Teil von ihr musste bei ihrem physischen Körper bleiben, um im Unterricht gelegentlich eine Frage zu beantworten (obwohl sie sich von der ersten Klasse an gern selbst gemeldet hatte, fand sie es heute ärgerlich, aufgerufen zu werden, wenn sie mit auf dem Tisch gefalteten Händen dasaß), sich beim Mittagessen mit ihren Freundinnen zu unterhalten und Mrs. Rennie zu fragen, ob sie wohl heute auf den Sportunterricht verzichten und stattdessen in die Bibliothek gehen dürfe. »Ich habe Bauchweh«, sagte sie, was unter den weiblichen Neuntklässlern die Umschreibung für Ich habe meine Periode war.

Als sie nach der Schule mit Emma nach Hause ging, verhielt sie sich weiterhin still, was kein großes Problem darstellte. Emma kam aus einer lesewütigen Familie und war derzeitig damit beschäftigt, sich zum dritten Mal durch die Trilogie Die Tribute von Panem zu schmökern. Mr. Deane versuchte, mit Abra zu plaudern, als er von der Arbeit nach Hause kam, gab es jedoch irgendwann auf und versenkte sich in die neueste Ausgabe des Economist, weil Abra nur einsilbige Antworten gab und Mrs. Deane ihm schon einen warnenden Blick zuwarf.

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