Doctor Sleep - Страница 80


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»Ich weiß schon, was ihr habt«, sagte Dave. »Die Masern. Hoffentlich lassen die eure ganze elende Sekte von innen heraus verfaulen.«

»Was wir sind, haben wir uns genauso wenig ausgesucht, wie ihr das getan habt«, sagte Andi. »An unserer Stelle würdet ihr dasselbe tun.«

John schüttelte langsam den Kopf. »Nie. Niemals.«

Snakebite Andi begann auszukreisen. Allerdings brachte sie noch vier weitere Wörter heraus. »Verfluchte Männer.« Ein letztes Keuchen, während sie die beiden aus ihrem verschwindenden Gesicht heraus anstarrte. »Verfluchte Tölpel.«

Dann war sie verschwunden.

17

Langsam und vorsichtig ging Dan auf John und Dave zu, wobei er sich mit einer Hand an den Picknicktischen abstützte, um sich im Gleichgewicht zu halten. Er hatte Abras Stoffhasen mitgenommen, ohne es zu merken. In seinem Kopf wurde es allmählich klarer, aber das war ein entschieden zweifelhafter Segen.

»Wir müssen zurück nach Anniston, und zwar schleunigst. Ich kann keinen Kontakt zu Billy herstellen. Vorher hat das funktioniert, aber jetzt nehme ich ihn nicht mehr wahr.«

»Und Abra?«, fragte Dave. »Was ist mit Abra?«

Dan hätte ihn am liebsten nicht angesehen – in Daves Gesicht stand blanke Furcht –, zwang sich jedoch dazu. »Die ist auch weg. Die Frau mit dem Hut ebenfalls. Beide sind nicht mehr erreichbar.«

»Und was bedeutet das?« Dave packte Dan mit beiden Händen am Hemd. »Was bedeutet das?«

»Ich weiß es nicht.«

Das war die Wahrheit, aber er hatte Angst.

Kapitel vierzehn
CROW

1

Komm mal her, Daddy, hatte Barry the Chink gesagt. Beug dich zu mir.

Das war, kurz nachdem Snakebite Andi die erste Porno-DVD aus dem Laden in Sidewinder gestartet hatte. Crow setzte sich zu Barry und hielt ihm sogar die Hand, während der Sterbende sich durch seinen nächsten Zyklus kämpfte. Und als er zurückkam …

Hör zu. Sie hat uns beobachtet. Erst als der Porno angefangen hat …

Jemand, der selbst kein Findertalent besaß, so etwas zu erklären war schwer, besonders wenn man todkrank war, aber Crow kapierte das Wesentliche. Die fröhlichen Ficker am Pool hatten das Mädchen geschockt, wie Rose es gehofft hatte, aber sie hatten nicht dazu geführt, dass die Kleine zu spionieren aufhörte und sich zurückzog. Ein, zwei Lidschläge lang hatte Barry den Ort, an dem das Mädchen sich befand, mit doppelter Intensität wahrgenommen. Es war weiterhin mit seinem Vater in dieser Miniatureisenbahn auf dem Weg zum Picknick, aber der Schock rief ein zweites Bild hervor, das keinen Sinn ergab. Auf diesem Bild saß das Mädchen in einem Badezimmer auf dem heruntergeklappten Toilettendeckel.

»Vielleicht hast du eine Erinnerung gesehen«, sagte Crow. »Wäre das möglich?«

»Schon«, sagte Barry. »Tölpel denken allerhand komischen Mist. Wahrscheinlich hat es keine Bedeutung. Aber irgendwie kam es mir so vor, als wären es Zwillinge, verstehst du?«

Crow verstand zwar nicht so recht, nickte jedoch.

»Bloß dass es das auch nicht ist. Möglicherweise führt die Kleine uns irgendwie hinters Licht. Zeig mir mal die Straßenkarte.«

Jimmy Numbers hatte ganz New Hampshire auf seinem Laptop, den Crow Barry nun unter die Nase hielt.

»Da ist sie«, sagte Barry und tippte auf den Bildschirm. »Mit ihrem Dad auf dem Weg zu diesem Wolkental.«

»Tor«, sagte Crow. »Wolkentor.«

»Ist doch scheißegal.« Barry fuhr mit dem Finger in Richtung Nordosten. »Und da ist das zweite Bild hergekommen.«

Crow nahm den Laptop und blickte durch den zweifellos infizierten Schweißtropfen, den Barry auf dem Bildschirm hinterlassen hatte. »Anniston? Da wohnt sie, Barry. Wahrscheinlich hat sie dort überall Gedankenspuren hinterlassen. Wie Schuppen.«

»Klar. Erinnerungen. Tagträume. Allerhand komischen Mist. Wie schon gesagt.«

»Und jetzt ist alles verschwunden.«

»Ja, aber …« Barry packte Crow am Handgelenk. »Wenn sie so stark ist, wie Rose sagt, dann ist es theoretisch möglich, dass sie uns tatsächlich hinters Licht führt. So etwa wie eine Bauchrednerin.«

»Bist du denn jemals auf einen Steamhead gestoßen, der so was konnte?«

»Nein, aber es gibt für alles ein erstes Mal. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mit ihrem Vater zusammen ist, aber du musst entscheiden, ob das ausreicht, um …«

In diesem Augenblick begann Barry wieder zu kreisen, womit jede sinnvolle Kommunikation beendet war. Crow stand vor einer schwierigen Entscheidung. Dies war seine Mission, und er traute sich zu, damit umzugehen, aber der Plan stammte von Rose, und – wichtiger noch – die war davon besessen. Wenn er die Sache verbockte, dann war er geliefert.

Crow warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Fünfzehn Uhr hier in New Hampshire, dreizehn Uhr in Sidewinder. Auf dem Campingplatz waren sie jetzt wahrscheinlich gerade mit dem Mittagessen fertig, und Rose war erreichbar. Das gab den Ausschlag. Er wählte ihre Nummer. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie gelacht und ihn als alten Angsthasen bezeichnet hätte, doch das tat sie nicht.

»Du weißt, wir können Barry nicht mehr ganz vertrauen«, sagte sie. »Aber dir vertraue ich. Was ist dein Bauchgefühl?«

Sein Bauch fühlte weder so noch so; deshalb hatte er ja angerufen. Das sagte er ihr und wartete.

»Ich überlasse es dir«, sagte sie. »Bau bloß keinen Mist.«

Danke, das hättest du dir sparen können, Süße. Das dachte er … und hoffte dann, dass sie es nicht aufgefangen hatte.

Er saß mit dem zugeklappten Telefon in der Hand da, schaukelte mit der Bewegung des Wagens von einer Seite zur anderen, atmete den Geruch von Barrys Krankheit ein und fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis auch bei ihm auf Armen, Beinen und Brust die ersten Flecke auftauchten. Schließlich ging er nach vorn und legte Jimmy die Hand auf die Schulter.

»Wenn wir in Anniston sind, halt an.«

»Wieso?«

»Weil ich dort aussteige.«

2

Crow Daddy stand in Anniston an der Tankstelle und sah den Winnebago davonfahren. Er wehrte den Impuls ab, Snake einen Gedanken zu senden, bevor sie außer Reichweite war (bei ihm funktionierte das nur auf kurze Entfernung): Kommt zurück, und nehmt mich wieder mit, das ist ein Irrtum.

Aber wenn es doch keiner war?

Als die anderen fort waren, warf er einen kurzen, sehnsüchtigen Blick auf die triste kleine Reihe von Gebrauchtwagen, die an der Waschanlage neben der Tankstelle zum Verkauf standen. Egal was nun in Anniston geschah, er brauchte einen fahrbaren Untersatz, um die Stadt zu verlassen. Er hatte mehr als genug Bargeld in der Brieftasche, sich einen Wagen zu kaufen, der ihn zu dem abgesprochenen Treffpunkt an der I-87 nahe Albany brachte; das Problem war die Zeit. Um alle Formalitäten zu erledigen, brauchte er mindestens eine halbe Stunde, und das war unter Umständen zu lang. Bis er sich sicher war, dass es sich um einen falschen Alarm handelte, musste er einfach improvisieren und sich auf seine Überredungskünste verlassen. Die hatten noch nie versagt.

Vorläufig nahm Crow sich die Zeit, den Laden der Tankstelle zu betreten, um sich eine Mütze in den Farben der Red Sox zu besorgen. Ein wenig Tarnung schadete nicht. Er überlegte, ob er dem Outfit eine Sonnenbrille hinzufügen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Dank Fernsehen hielt ein gewisser Teil der Bevölkerung jeden gestandenen Mann für einen Killer. Die Mütze musste ausreichen.

Er ging die Hauptstraße entlang bis zur Bücherei, wo Abra und Dan Kriegsrat abgehalten hatten. Schon im Eingangsbereich fand er, was er suchte. Unter einem Schild mit der Aufschrift UNSERE STADT hing ein Stadtplan von Anniston, auf dem jedes Sträßchen dargestellt war. Er vergewisserte sich, wo genau das Haus des Mädchens sich befand.

»Tolles Spiel gestern Abend, was?«, sagte ein Mann. Er trug einen Packen Bücher unter dem Arm.

Einen Moment hatte Crow keine Ahnung, wovon der Mann redete, dann fiel ihm seine neue Mütze ein. »Kann man wohl sagen«, stimmte er zu, ohne den Blick vom Stadtplan abzuwenden.

Er ließ dem Sox-Fan Zeit, sich zu verziehen, bevor er die Bücherei verließ. Die Mütze tat ihre Wirkung, aber er hatte keine Lust, über Baseball zu fachsimpeln. Seiner Meinung nach war das ein stinklangweiliges Spiel.

3

Der Richland Court war ein kurzes Sträßchen mit hübschen Eigenheimen im regionalen Stil, das an einem kreisförmigen Wendeplatz endete. Unterwegs hatte Crow sich eine Gratiszeitung namens The Anniston Shopper gegriffen, und nun stand er an der Ecke, lehnte sich an einen praktischen Eichbaum und tat so, als würde er in dem Blättchen lesen. Die Eiche schirmte ihn von der Straße ab, was vielleicht ganz gut war, denn ein Stück weiter parkte ein roter Pick-up mit einem Mann am Steuer. Auf der Ladefläche des Wagens, einem älteren Modell, lagen allerhand Gartenwerkzeuge und ein Ding, das wie eine Motorhacke aussah. Es konnte sich also um einen Gärtner handeln – die Leute, die in solchen Straßen wohnten, konnten sich einen leisten –, aber wieso hockte der Typ dann einfach bloß da?

Betätigte er sich vielleicht als Babysitter?

Plötzlich war Crow froh, dass er Barry ernst genommen hatte und ausgestiegen war. Die Frage war, was nun. Er konnte Rose anrufen und um Rat fragen, aber das letzte Gespräch hatte nicht mehr gebracht als ein Blick in die Glaskugel.

Er stand immer noch halb verborgen hinter der praktischen alten Eiche und grübelte über seinen nächsten Schachzug nach, als die Vorsehung, die dem Wahren Knoten immer einen Vorteil gegenüber den Tölpeln verschaffte, einschritt. Ein paar Häuser weiter ging eine Haustür auf, und zwei Mädchen traten heraus. Crows Augen waren genauso scharf wie die einer Krähe, weshalb er ja auch so genannt wurde, und diese Augen erkannten die beiden sofort als zwei der drei Mädchen auf den von Billy ausgedruckten Fotos. Die in dem braunen Rock war Emma Deane. Die in der schwarzen Hose war Abra Stone.

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