Kurz nachdem sie die erste Mautstelle auf dem Spaulding Turnpike passiert hatten und nur noch sechzig Meilen von Boston entfernt waren, fing er sie endlich auf.
(Dan)
Leise. Kaum vorhanden. Zuerst hielt er es für reine Einbildung – für Wunschdenken –, aber er drehte sich trotzdem in die Richtung, aus der es kam, und versuchte, seine Konzentration zu einem Suchscheinwerfer zu verengen. Da kam es wieder, diesmal etwas lauter. Es war real. Es war Abra.
(Dan! Dan bitte!)
Wie erwartet, stand sie unter Drogen, und er hatte noch nie auch nur annähernd etwas versucht wie das, was nun geschehen musste … aber Abra kannte sich darin aus. Sie musste ihm zeigen, wie es ging, so umnebelt sie auch war.
(Abra schieb an du musst mir helfen)
(womit helfen wie helfen)
(Kleider tauschen)
(???)
(hilf mir die Welt zu drehen)
4
Auf dem Beifahrersitz war Dave damit beschäftigt, vor der nächsten Mautstelle die in der Ablage der Mittelkonsole gesammelten Münzen zu sortieren, als Dan ihn von hinten ansprach. Nur war es eigentlich gar nicht Dan.
»Lassen Sie mir noch einen Moment Zeit, ich muss meinen Tampon wechseln!«
Der Wagen geriet leicht ins Schleudern, weil John sich mit einem Ruck aufsetzte und am Lenkrad riss. »Was soll das denn?«
Dave löste seinen Gurt, kniete sich auf den Sitz und drehte sich nach Dan um, der immer noch auf der Rückbank lag. Dessen Augenlider waren halb geschlossen, doch als Dave den Namen seiner Tochter sagte, gingen sie auf.
»Nein, Daddy, jetzt nicht, ich muss jetzt helfen … muss versuchen …« Dans Körper krümmte sich. Eine Hand hob sich, um den Mund zu reiben – eine Geste, die Dave unzählige Male gesehen hatte –, und sank wieder zurück. »Sag ihm, ich hab gesagt, er soll mich nicht so nennen. Sag ihm …«
Dans Kopf neigte sich zur Seite, bis er auf der Schulter zu liegen kam. Er stöhnte; seine Hände zuckten, ohne etwas zu ergreifen.
»Was geht da vor sich?«, rief John. »Was soll ich tun?«
»Keine Ahnung«, sagte Dave. Er griff zwischen den Sitzen durch, nahm eine der zuckenden Hände und hielt sie fest.
»Weiterfahren«, sagte Dan. »Einfach weiterfahren.«
Dann begann der Körper auf dem Rücksitz sich aufzubäumen und zu verdrehen. Mit Dans Stimme stieß Abra einen Schrei aus.
5
Er fand die Verbindung zu ihr, indem er dem trägen Strom ihrer Gedanken folgte. Er sah das steinerne Rad, weil Abra es sich vorstellte, aber sie war viel zu schwach und desorientiert, es zu drehen. Sie brauchte schon alle mentale Kraft, die sie aufbringen konnte, um ihr Ende der Verbindung offen zu halten. Damit er in ihre Gedanken gelangen konnte und sie in seine. Aber er war weiterhin hauptsächlich in Johns SUV, über dessen Dachhimmel das Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Wagen strich. Hell … dunkel … hell … dunkel.
Das Rad war so schwer.
Irgendwo hämmerte es plötzlich, begleitet von einer Stimme. »Komm raus da, Abra. Zeit ist um. Wir müssen weiter.«
Das machte ihr Angst, wodurch sie ein bisschen zusätzliche Kraft aufbrachte. Das Rad begann sich zu bewegen und zog ihn tiefer in die Nabelschnur, die sie verband. Es war das seltsamste Gefühl, das Dan in seinem ganzen Leben verspürt hatte, und es wirkte beglückend, so furchtbar die Lage auch war.
In der Ferne hörte er Abra sagen: »Lassen Sie mir noch einen Moment Zeit, ich muss meinen Tampon wechseln!«
Das Dach von Johns Wagen glitt davon. Es drehte sich weg. Dann herrschte Dunkelheit, das Gefühl, in einem Tunnel zu sein, und er hatte Zeit zu denken: Wenn ich mich hier drin verirre, werde ich nie wieder zurückfinden. Dann ende ich irgendwo in der Psychiatrie, Diagnose unheilbare Schizophrenie.
Aber dann nahm die Welt wieder Gestalt an, nur war es nicht mehr derselbe Ort. Der Suburban war verschwunden. Dan befand sich auf einmal in einer stinkenden Toilette mit schmutzigen blauen Fliesen und einem Schild neben dem Waschbecken: NUR KALTES WASSER. WIR BITTEN UM VERSTÄNDNIS. Er saß auf der Klobrille.
Bevor er daran denken konnte aufzustehen, flog die Tür so gewaltsam auf, dass einige der alten Fliesen zersprangen, und ein Mann schritt herein. Dem Augenschein nach war er etwa fünfunddreißig. Sein Haar war pechschwarz und aus der Stirn gekämmt, sein Gesicht kantig, aber von einer rauen, knochigen Schönheit. In einer Hand hielt er eine Pistole.
»Klar musst du deinen Tampon wechseln«, sagte er. »Woher hattest du denn einen frischen, Schätzchen, etwa aus deiner Hosentasche? Muss wohl so sein, denn dein Rucksack ist ganz woanders.«
(sag ihm ich hab gesagt er soll mich nicht so nennen)
»Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen mich nicht so nennen«, sagte Dan.
Crow schwieg und betrachtete das auf der Toilette sitzende Mädchen, das leicht hin und her schwankte. Das kam von der Droge. Klar. Aber wieso hörte die Stimme der Kleinen sich so komisch an? Lag das ebenfalls an der Droge?
»Was ist denn mit deiner Stimme los? Du klingst ja ganz anders als sonst?«
Dan versuchte, mit Abras Schultern zu zucken, was ihm jedoch nur mit einer gelangt. Crow packte Abras Arm und zerrte Dan auf Abras Beine. Das tat weh, und er schrie auf.
Irgendwo – viele Meilen entfernt – rief eine leise Stimme: Was geht da vor sich? Was soll ich tun?
»Weiterfahren«, sagte Dan zu John, während Crow ihn aus der Tür zog. »Einfach weiterfahren.«
»Klar, ich fahre weiter, darauf kannst du dich verlassen«, sagte Crow, während er Abra neben den schnarchenden Billy Freeman in den Pick-up stieß. Dann griff er sich ein Büschel von Abras Haaren, verdrehte es mit der Faust und zog. Dan schrie mit Abras Stimme, wohl wissend, dass es nicht ganz ihre Stimme war. Fast, aber nicht ganz. Crow hörte den Unterschied, wusste jedoch nicht recht, was er damit anfangen sollte. Die Frau mit dem Hut hätte es begriffen; schließlich war sie es gewesen, die Abra diesen mentalen Tauschtrick beigebracht hatte, ohne es zu wollen.
»Bevor wir losfahren, werden wir eine Abmachung treffen. Keine Lügen mehr, das ist die Abmachung. Wenn du deinen Daddy noch einmal anlügen solltest, dann ist der alte Knacker, der da neben dir schnarcht, nämlich mausetot. Dazu werde ich nicht mal die Spritze nehmen. Ich fahre auf einen Privatweg und schieße dem Kerl eine Kugel in den Bauch. Dann dauert es eine Weile, und du kannst zuhören, wie er schreit. Hast du mich verstanden?«
»Ja«, flüsterte Dan.
»Das hoffe ich, Kleine, denn ich wiederhole mich nicht gern, verdammt noch mal.«
Crow schlug die Tür zu und eilte auf die Fahrerseite. Dan schloss Abras Augen. Er dachte an die Löffel bei ihrer Geburtstagsparty. Und daran, wie sie Schubladen aufgezogen und zugeschlagen hatte. Körperlich war Abra zu schwach, als das sie sich gegen den Mann, der sich nun ans Lenkrad setzte und den Motor anließ, hätte wehren können, aber ein Teil von ihr war stark. Wenn er diesen Teil finden konnte … den Teil, der Löffel bewegt, Schubladen geöffnet und in der Luft Musik gespielt hatte … der aus der Entfernung Nachrichten auf seine Tafel geschrieben hatte … wenn er den finden und sich zu eigen machen konnte …
So wie Abra sich einmal als Kriegerin mit Lanze und Hengst gesehen hatte, stellte Dan sich nun eine Reihe von Schaltern an der Wand eines Kontrollraums vor. Mit einigen konnte man Abras Hände, mit anderen ihre Beine oder das Zucken ihrer Achseln betätigen. Noch wichtiger waren jedoch andere. Eigentlich musste er in der Lage sein, alle zu betätigen; er besaß zumindest teilweise dieselben Schaltkreise wie sie.
Der Pick-up bewegte sich, zuerst rückwärts, dann in einer Kurve. Wenig später waren sie wieder auf der Straße.
»Gut so«, sagte Crow grimmig. »Schlaf nur ein. Was zum Teufel hattest du da drin eigentlich vor? Wolltest du in die Kloschüssel springen und dich nach Hause spü…«
Seine Worte verklangen, denn da waren die Schalter, nach denen Dan gesucht hatte. Die speziellen Schalter, die mit den roten Handgriffen. Er wusste nicht, ob sie tatsächlich vorhanden und mit Abras Kräften verbunden waren oder ob er nur eine mentale Solitärpartie spielte. Er wusste nur, dass er es versuchen musste.
Volle Kraft voraus, dachte er und zog sie alle gleichzeitig.
6
Billy Freemans Pick-up rollte sechs bis acht Meilen westlich der Tankstelle auf der 108 durch die dunkle Landschaft von Vermont, als Crow den Schmerz zum ersten Mal spürte. Es fühlte sich an wie ein kleiner Silberring rund um sein linkes Auge, kalt und drückend. Crow hob die Hand, um die Empfindung zu berühren, doch bevor ihm das gelang, verschob sie sich nach rechts und ließ seinen Nasenrücken erstarren, als hätte man dort Novocain injiziert. Dann umschloss ein zweiter Ring auch noch sein anderes Auge. Es war wie ein kleines Fernglas aus Metall.
Oder wie Augenschellen.
Nun begann es in seinem linken Ohr zu klingeln, und plötzlich war seine linke Wange taub. Er drehte den Kopf und sah, dass das Mädchen ihn anblickte. Abras geweitete Augen wirkten wach. Sie sahen überhaupt nicht benebelt aus. Genauer gesagt sahen sie nicht einmal wie ihre eigenen Augen aus, sondern älter. Klüger. Und so kalt, wie sein Gesicht sich jetzt anfühlte.
(anhalten)
Crow hatte die Spritze mit ihrer Kappe gesichert und weggelegt, aber die Pistole, die er unter dem Sitz hervorgeholt hatte, als Abra zu lange auf dem Klo geblieben war, lag auf seinem Schoß. Er ergriff sie und hob sie, um den alten Knacker zu bedrohen und Abra dazu zu zwingen, mit diesen Spielchen aufzuhören, aber ganz plötzlich fühlte seine Hand sich an, als hätte er sie in eiskaltes Wasser gesteckt. Außerdem wurde die Pistole immer schwerer: zwei Kilo, vier Kilo, gefühlte zehn Kilo. Mindestens zehn. Und während er sich noch abmühte, sie zu heben, hob sich sein rechter Fuß vom Gaspedal, und seine linke Hand drehte das Lenkrad so, dass der Pick-up von der Straße abkam und, während er allmählich langsamer wurde, über den breiten Seitenstreifen holperte. Die rechten Räder näherten sich schon dem Graben.