Doctor Sleep - Страница 91


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Sie nahm Steam.

Als sie fertig war, stellte sie die Flasche zurück, setzte sich ans Lenkrad ihres Wohnmobils und blickte geradeaus. Spar dir die Mühe, zu mir zu kommen, Rose – ich komme zu dir. Das hatte das Mädchen gesagt. Das hatte es zu ihr, Rose O’Hara, Rose the Hat, zu sagen gewagt. Die Kleine war also nicht nur stark, sondern stark und rachsüchtig. Zornig.

»Komm nur, Schätzchen«, sagte sie. »Und bleib ruhig zornig. Je zorniger du bist, desto tollkühner wirst du sein. Komm nur zu deiner Tante Rose.«

Es knackte. Sie blickte nach unten und sah, dass sie die untere Hälfte des Lenkrads abgebrochen hatte. Steam verlieh Kraft. Ihre Hände bluteten. Rose warf den schartigen Bogen aus Kunststoff beiseite, hob die Hände ans Gesicht und leckte sie ab.

Kapitel sechzehn
WAS VERGESSEN WAR

1

Noch während Dan sein Handy zuklappte, sagte Dave: »Holen wir Lucy ab, und dann auf zu Abra!«

Dan schüttelte den Kopf. »Sie sagt, es geht ihnen gut, und ich glaube ihr.«

»Allerdings hat man sie unter Drogen gesetzt«, wandte John ein. »Da ist ihr Urteilsvermögen momentan möglicherweise nicht das beste.«

»Sie war wach genug, mir zu helfen, diesen Crow auszuschalten«, sagte Dan. »Und deshalb vertraue ich ihr. Lassen wir die beiden schlafen, um das Zeug loszuwerden, das dieser Bastard ihnen injiziert hat. Wir haben was anderes zu tun, und zwar was Wichtiges. Ihr müsst mir da ein wenig Vertrauen schenken. Sie werden schon bald bei Ihrer Tochter sein, David. Jetzt hören Sie mir aber bitte erst einmal gut zu. Wir werden Sie an der Wohnung absetzen, in der Ihre Frau ist. Bringen Sie sie zum Krankenhaus. Wir fahren schon mal vor.«

»Ich weiß gar nicht, ob sie mir glauben wird, wenn ich ihr erzähle, was heute geschehen ist. Keine Ahnung, wie überzeugend ich wirke, wo ich das Ganze selbst kaum glauben kann.«

»Sagen Sie ihr, die Erklärungen müssten warten, bis wir alle zusammen sind. Dazu gehört auch Abras Momo.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass man euch zu ihr lässt.« Dave warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Die Besuchszeit ist schon lange vorbei, und Chetta ist sehr krank.«

»Wenn ein Patient dem Ende nahe ist, nimmt das Personal es mit den Besuchsvorschriften meist nicht mehr so genau«, sagte Dan.

Dave sah John an, der die Achseln zuckte. »Der Mann arbeitet in einem Hospiz. Ich glaube, da kennt er sich mit solchen Dingen aus.«

»Vielleicht ist sie nicht mal bei Bewusstsein«, sagte Dave.

»Darüber brauchen wir jetzt nicht zu spekulieren.«

»Was hat Chetta überhaupt mit alledem zu tun? Sie weiß doch nicht mal was davon!«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mehr weiß, als Sie denken«, sagte Dan.

2

Sie setzten Dave an der Wohnanlage in der Marlborough Street ab und beobachteten vom Auto aus, wie er die Treppe hochging, die Doppelreihe von Klingeln studierte und dann auf eine drückte.

»Er sieht wie ein kleiner Junge aus, der weiß, dass man ihm gleich den nackten Hintern versohlen wird«, sagte John. »Diese Geschichte wird seine Ehe ganz schön unter Druck setzen, egal wie die Sache ausgeht.«

»Bei einer Naturkatastrophe gibt man auch niemand die Schuld.«

»Bloß dass Lucy Stone es nicht so sehen wird. Sie wird denken: ›Du hast deine Tochter allein gelassen, und dann hat ein Irrer sie gekidnappt.‹ In gewisser Weise wird sie das immer denken.«

»Vielleicht bringt Abra sie dazu, ihre Meinung zu ändern. Jedenfalls haben wir heute getan, was wir konnten, und bisher läuft es gar nicht so schlecht.«

»Aber es ist noch nicht vorüber.«

»Noch lange nicht.«

Dave läutete zum zweiten Mal und spähte dabei in den Hausflur, als der Aufzug aufging und seine Frau herausgelaufen kam. Ihr bleiches Gesicht wirkte angespannt. Sobald sie die Tür geöffnet hatte, begann Dave auf sie einzureden. Und umgekehrt. Schließlich packte Lucy ihn an beiden Armen und zog ihn abrupt ins Haus.

»O Mann«, sagte John leise. »Das erinnert mich an mehr als eine Nacht, in der ich um drei Uhr morgens besoffen nach Hause gekommen bin.«

»Entweder er schafft es, sie zu überzeugen, oder nicht«, sagte Dan. »Wir müssen weiter.«

3

Als Dan Torrance und John Dalton am Massachusetts General Hospital eintrafen, war es kurz nach halb elf. Auf der Intensivstation war nicht viel los. Ein schlaffer, mit Helium gefüllter Luftballon, auf dem in bunten Lettern GUTE BESSERUNG stand, trieb halbherzig an der Decke des Korridors entlang und warf einen quallenartigen Schatten. Dan ging direkt zum Schwesternzimmer, stellte sich als Mitarbeiter des Hospizes vor, in das Ms. Reynolds verlegt werden solle, präsentierte seinen Dienstausweis und erklärte, John Dalton sei der Hausarzt der Familie (was nicht ganz stimmte, aber auch nicht ganz gelogen war).

»Wir müssen vor dem Transport den Zustand der Patientin überprüfen«, sagte Dan. »Und dabei wollen zwei Familienmitglieder anwesend sein. Es handelt sich um die Enkelin von Ms. Reynolds und ihren Mann. Tut mir leid, dass wir so spät kommen, aber es ging nicht anders. Die Angehörigen werden auch bald hier sein.«

»Ich habe die beiden schon kennengelernt«, sagte die Oberschwester. »Wirklich sehr nette Leute. Vor allem Lucy hat sich rührend um ihre Großmutter gekümmert. Concetta ist ein besonderer Mensch. Ich habe einige Gedichte von ihr gelesen, und die sind wirklich wunderschön. Aber falls Sie von ihr irgendeine Reaktion erwarten sollten, meine Herren, werden Sie enttäuscht sein. Sie ist ins Koma gefallen.«

Das werden wir ja sehen, dachte Dan.

»Und …« Die Schwester sah John zweifelnd an. »Tja … es steht mir eigentlich nicht zu, etwas dazu zu sagen …«

»Nur zu«, sagte John. »Ich bin noch nie auf eine Oberschwester getroffen, die nicht genau wusste, was Sache war.«

Sie strahlte ihn an, dann wandte sie sich an Dan. »Ich hab viel Gutes von Ihrem Hospiz gehört, aber ich zweifle sehr daran, dass Concetta dort landen wird. Selbst wenn sie am Montag noch lebt, weiß ich nicht recht, ob es irgendeinen Sinn hat, sie zu verlegen. Womöglich ist es besser für sie, wenn man sie ihre Reise hier beenden lässt. Falls ich mich jetzt zu weit vorgewagt haben sollte, bitte ich um Verständnis.«

»Haben Sie nicht«, sagte Dan. »Und wir werden das in unsere Überlegungen einbeziehen. John, gehen Sie bitte zum Eingang, um die Stones hierherzubegleiten, wenn sie eintreffen? Ich kann schon mal ohne Sie anfangen.«

»Sind Sie sich sicher, dass …«

»Ja«, sagte Dan und sah ihm unverblümt in die Augen. »Das bin ich.«

»Sie ist in Zimmer neun«, sagte die Oberschwester. »Das ist am Ende vom Flur. Wenn Sie mich brauchen, drücken Sie einfach die Ruftaste dort.«

4

An der Tür von Zimmer 9 stand Concettas Name, aber das Fach für ärztliche Anweisungen war leer, und der oben angebrachte Monitor mit den Vitalfunktionen zeigte nichts Hoffnungsvolles. Dan trat in Gerüche, die er gut kannte: Lufterfrischer, Desinfektionsmittel und tödliche Erkrankung. Letzterer summte in seinem Kopf wie eine Geige, die nur eine Note spielen konnte. An den Wänden hingen Fotos, darunter viele von Abra in unterschiedlichem Alter. Auf einem sah man einen Haufen kleiner Kinder, die mit offenem Mund zuschauten, wie ein Magier ein weißes Kaninchen aus einem Hut zog. Das war bestimmt bei jener berühmten Geburtstagsparty aufgenommen worden, am Tag der Löffel.

Umgeben von diesen Bildern, schlief hier eine bis aufs Skelett abgemagerte Frau mit offenem Mund und einem zwischen die Finger geflochtenen Rosenkranz. Die ihr verbliebenen Haare waren so fein, dass sie auf dem Kissen fast nicht zu sehen waren. Ihre früher olivfarbene Haut war inzwischen gelb; die schmale Brust hob und senkte sich nur unmerklich. Ein Blick reichte Dan aus, um zu erkennen, dass die Oberschwester tatsächlich genau wusste, was Sache war. Wäre Azzie da gewesen, so hätte er bereits neben der Frau in diesem Zimmer gelegen und auf die Ankunft von Doctor Sleep gewartet. Damit er seine nächtliche Patrouille durch Flure wieder aufnehmen konnte, die bis auf nur für Katzen sichtbare Dinge leer waren.

Als Dan sich auf die Bettkante setzte, sah er, dass die einzige Infusion eine Salzlösung enthielt. Es gab nur eine Medizin, die dieser Frau noch helfen konnte, und die hatte die Krankenhausapotheke nicht auf Lager. Die Kanüle hatte sich verschoben. Dan brachte sie wieder in die richtige Position, dann nahm er ihre Hand und blickte in das schlafende Gesicht.

(Concetta)

In ihre Atmung kam ein leichtes Stocken.

(Concetta kommen Sie zurück)

Unter den dünnen, blutunterlaufenen Lidern bewegten sich die Augen. Vielleicht hatte sie gelauscht, vielleicht hatte sie auch ihre letzten Träume geträumt. Von Italien wahrscheinlich. Wie sie sich über den Brunnen ihres Elternhauses gebeugt hatte, um einen Eimer kühles Wasser hochzuziehen, die heiße Sommersonne auf dem Rücken.

(Kommen Sie zurück Abra braucht Sie und ich auch)

Das war alles, was er tun konnte, und er war sich nicht sicher, ob es ausreichen würde, bis sich tatsächlich langsam ihre Augen öffneten. Zuerst waren sie leer, dann gewannen sie die Fähigkeit zur Wahrnehmung wieder. Das hatte Dan schon oft gesehen, dieses Wunder des zurückkehrenden Bewusstseins. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, von woher es kam und wohin es ging, wenn es verschwand. Der Tod war nicht weniger ein Wunder als die Geburt.

Die Hand, die er hielt, schloss sich um seine. Concettas Blick richtete sich auf Dan, und sie lächelte. Es war ein zaghaftes Lächeln, aber doch vorhanden.

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