»O mio caro! Sei tu? Sei tu? Come è possibile? Sei morto? Sono morta anch’io? … Siamo fantasmi?«
Dan sprach kein Italienisch, aber das war auch nicht nötig. Was sie sagte, hörte er mit vollkommener Klarheit in seinem Kopf:
Ach, mein Lieber, bist du es? Bist du es? Wie ist das möglich? Bist du tot? Bin ich es auch?
Dann, nach einer Pause:
Sind wir Geister?
Er beugte sich zu ihr, bis seine Wange die ihre berührte.
Er flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Nach einer Weile erwiderte sie sein Flüstern.
5
Das Gespräch war kurz, aber aufschlussreich. Concetta sprach hauptsächlich auf italienisch. Schließlich hob sie die Hand – mit großer Mühe, aber sie schaffte es – und streichelte Dan die stoppelige Wange. Sie lächelte.
»Sind Sie bereit?«, fragte er.
»Sì. Bereit.«
»Sie brauchen vor nichts Angst zu haben.«
»Sì, das weiß ich. Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind. Sagen Sie mir noch einmal Ihren Namen, Signore.«
»Daniel Torrance.«
»Sì. Sie hat der liebe Gott geschickt, Daniel Torrance. Sei un dono di Dio.«
Dan hoffte, dass das stimmte. »Werden Sie mir schenken, worum ich Sie gebeten habe?«
»Sì, natürlich. Alles, was Sie brauchen, per Abra.«
»Und ich werde Ihnen auch etwas schenken, Concetta. Wir werden gemeinsam aus dem Brunnen trinken.«
Sie schloss die Augen.
(ich weiß)
»Sie werden einschlafen, und wenn Sie aufwachen …«
(wird alles besser sein)
Die Kraft war noch stärker als in der Nacht, in der Charlie Hayes hinübergegangen war; er spürte sie zwischen sich und Concetta, während er sanft ihre Hände in seine nahm und die glatten Perlen ihres Rosenkranzes sich an seine Handflächen schmiegten. Irgendwo wurden Lichter gelöscht, eines nach dem anderen. Das war in Ordnung so. In Italien holte ein Mädchen in einem braunen Kleid und Sandalen Wasser aus dem kühlen Schlund eines Ziehbrunnens. Das kleine Mädchen sah aus wie Abra. Ein Hund bellte. Il cane. Ginata. Il cane si rotolava sull’erba. Er wälzte sich bellend im Gras. Drollig war ihr Hund gewesen, ihre Ginata.
Concetta war sechzehn und verliebt; sie war dreißig und schrieb am Küchentisch einer stickigen Wohnung in Queens ein Gedicht, während auf der Straße unten Kinder tobten; sie war sechzig, stand im Regen und blickte in hunderttausend Fäden aus reinem, herabfallendem Silber. Sie war ihre Mutter und ihre Urenkelin, und es war Zeit für ihre große Veränderung, ihre große Reise. Ginata wälzte sich im Gras und die Lichter
(beeil dich bitte)
gingen nacheinander aus. Eine Tür öffnete sich
(bitte beeil dich es ist Zeit)
und dahinter konnten sie beide den ganzen geheimnisvollen, duftenden Atem der Nacht riechen. Darüber standen alle Sterne, die es je gegeben hatte.
Er küsste ihre kühle Stirn. »Alles ist richtig so, cara. Du musst nur einschlafen. Durch den Schlaf wird alles besser werden.«
Dann wartete er auf ihren letzten Atemzug.
Der schließlich kam.
6
Er saß immer noch da, ihre Hände in seinen, als abrupt die Tür aufging und Lucy Stone hereingeschritten kam. Ihr Mann und John Dalton folgten, aber nicht allzu dicht hinter ihr; es war, als hätten sie Angst davor, von der Furcht, der Wut und der verwirrten Empörung verbrannt zu werden, die Lucy als knisternde, fast sichtbare Aura umgaben.
Als sie Dan an der Schulter packte, gruben sich ihre Fingernägel wie Klauen durch sein Hemd in seine Haut. »Weg hier! Sie kennen diese Frau nicht. Sie haben nicht mehr mit meiner Großmutter zu schaffen als mit meiner Toch…«
»Sprechen Sie leiser«, sagte Dan, ohne sich umzudrehen. »Sie sind im Angesicht des Todes.«
Der Zorn, der ihren Körper verkrampft hatte, strömte so plötzlich aus ihr heraus, dass ihre Gelenke erschlafften. Sie sank neben Dan aufs Bett und blickte auf das wächserne Bild, zu dem das Gesicht ihrer Großmutter geworden war. Dann betrachtete sie den hageren, unrasierten Mann, der dasaß und die toten Hände hielt, in die immer noch der Rosenkranz geflochten war. Unbemerkt rollten Tränen in großen, klaren Tropfen an Lucys Wangen herab.
»Ich kapiere nicht einmal die Hälfte von dem, was die beiden da mir erzählen wollten. Nur dass Abra gekidnappt wurde, aber nun in Sicherheit ist – angeblich –, dass sie mit einem Mann namens Billy in einem Motel ist und dass die beiden jetzt schlafen.«
»Das stimmt alles«, sagte Dan.
»Dann verschonen Sie mich bitte mit Ihren Moralsprüchen. Ich werde um meine Momo trauern, sobald ich Abra sehe. Sobald ich sie in die Arme genommen habe. Jetzt will ich erst mal wissen … ich will …« Sie brach ab, warf einen Blick auf ihre tote Großmutter und sah dann wieder Dan an. Ihr Mann stand hinter ihr. John hatte die Tür von Zimmer 9 geschlossen und sich mit dem Rücken darangelehnt. »Sie heißen Torrance? Daniel Torrance?«
»Ja.«
Wieder wanderte ihr Blick langsam von dem reglosen Gesicht ihrer Großmutter zu dem Mann, der bei deren Tod zugegen gewesen war. »Wer sind Sie, Mr. Torrance?«
Dan ließ Concettas Hände los und ergriff die von Lucy. »Kommen Sie mit. Es ist nicht weit. Nur dort hinüber.«
Den Blick nun unverwandt auf sein Gesicht gerichtet, stand sie ohne Widerspruch auf. Er führte sie zur Badezimmertür, die offen stand. Dort schaltete er das Licht ein und deutete auf den Spiegel über dem Waschbecken, in dem ihre Gesichter gerahmt waren wie auf einer Fotografie. Wenn man sie so sah, konnte es kaum einen Zweifel geben. Eigentlich gar keinen.
»Mein Vater war auch dein Vater, Lucy«, sagte er. »Ich bin dein Halbbruder.«
7
Nachdem sie die Oberschwester über den Todesfall auf der Station informiert hatten, gingen sie in den kleinen, nichtkonfessionellen Andachtsraum des Krankenhauses. Lucy kannte den Weg; obwohl sie nicht besonders gläubig war, hatte sie ziemlich viele Stunden dort verbracht, um nachzudenken und sich zu erinnern. Es war ein tröstlicher Ort, das zu tun, etwas, was nötig war, wenn ein geliebter Mensch sich dem Ende seines Lebens näherte. Um diese Tageszeit hatten sie den Raum ganz für sich.
»So, nun eins nach dem anderen«, sagte Dan. »Ich muss erst mal fragen, ob du mir glaubst. Wir können später einen DNA-Test machen lassen, aber … müssen wir das wirklich tun?«
Lucy schüttelte benommen den Kopf, ohne den Blick von seinem Gesicht abzuwenden. Sie schien damit beschäftigt zu sein, es sich einzuprägen. »Meine Güte. Ich krieg kaum Luft.«
»Schon als ich dich das erste Mal gesehen habe, bist du mir irgendwie bekannt vorgekommen«, sagte Dave. »Jetzt weiß ich, warum. Ich hätte es wahrscheinlich früher gemerkt, wenn es nicht … du weißt schon …«
»Direkt vor deiner Nase gewesen wäre«, mischte sich John ein. »Dan, weiß Abra eigentlich Bescheid?«
»Klar.« Dan lächelte, weil er sich an Abras Relativitätstheorie erinnerte.
»Hat sie das in deinen Gedanken gelesen?«, fragte Lucy. »Mit ihren telepathischen Fähigkeiten?«
»Nein, ich wusste es ja nicht. Selbst jemand mit so viel Shining wie Abra kann nichts lesen, was nicht da ist. Aber auf einer tieferen Ebene haben wir es beide gewusst. Himmel, wir haben es sogar ausgesprochen. Wenn jemand gefragt hätte, was wir miteinander zu schaffen haben, dann hätten wir gesagt, ich wäre ihr Onkel. Was ich tatsächlich bin. Ich hätte es auch früher erkennen sollen.«
»Das ist ein Zufall, wie es ihn im Grunde gar nicht geben kann«, sagte Dave kopfschüttelnd.
»Es ist keiner. Von Zufall kann nicht die Rede sein. Lucy, mir ist klar, dass du verwirrt und zornig bist. Ich werde dir alles erzählen, was ich weiß, aber das wird etwas Zeit brauchen. Dank John, deinem Mann und Abra – vor allem dank ihr – haben wir die glücklicherweise.«
»Unterwegs«, sagte Lucy. »Du kannst es mir auf dem Weg zu Abra erzählen.«
»Einverstanden«, sagte Dan. »Dann unterwegs. Aber zuerst brauchen wir drei Stunden Schlaf.«
Noch bevor er den Satz beendet hatte, schüttelte sie den Kopf und ergriff seine Hand. An der Kälte ihrer Hände war zu spüren, dass sie einen tiefen, elementaren Schock erlitten hatte. »Nein, jetzt gleich. Ich muss sie so bald wiedersehen, wie es irgend geht. Begreifst du das nicht? Sie ist meine Tochter, man hat sie entführt, und ich muss sie wiedersehen!«
»Sie war entführt, das stimmt, aber jetzt ist sie in Sicherheit«, sagte Dan.
»Das sagst du, natürlich sagst du das, aber du weißt es eigentlich gar nicht.«
»Abra sagt es«, erwiderte er. »Und die weiß es durchaus. Hör mal, Lucy, sie schläft gerade, und sie braucht ihren Schlaf.« Ich übrigens auch. Ich habe eine lange Reise vor mir, und ich glaube, die wird schwer werden. Sehr schwer.
Lucy betrachtete ihn aufmerksam. »Was ist mit dir?«, fragte sie.
»Bin bloß müde.«
»Das sind wir alle«, sagte John. »Es war ein … stressiger Tag.« Er stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus, dann hielt er sich beide Hände vor den Mund wie ein Kind, das ein unartiges Wort gesagt hat.
»Das heißt, ich kann Abra nicht einmal anrufen, um ihre Stimme zu hören«, sagte Lucy. Sie sprach langsam, als versuchte sie, ein nur schwer zu befolgendes Gebot zu artikulieren. »Weil sie schlafen muss, um die Drogen loszuwerden, die dieser Mann … den sie Crow nennt … ihr gespritzt hat.«
»Bald«, sagte Dave. »Du wirst sie ganz bald sehen.« Er legte seine Hand auf ihre. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Lucy ihn abschütteln. Dann umklammerte sie die Hand stattdessen.