Doctor Sleep - Страница 96


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Unter den zottigen Haarsträhnen glommen zwei wilde Augen auf. »Lache.«

Rose küsste sie erst auf die eine Wange, dann auf die andere, dann auf ihre schmalen, trockenen Lippen. Sie beugte sich zurück und sagte: »Ja. Und die wirst du bekommen. Mach den Mund auf, Sarey.«

Gehorsam tat Sarey es. Die Lippen der beiden schmiegten sich aneinander. Rose the Hat, immer noch voller Steam, blies Silent Sarey ihren Atem in die Kehle.

15

Die Wände von Concettas Arbeitszimmer waren mit Notizzetteln, Fragmenten von Gedichten und Briefen gepflastert, die nie beantwortet werden würden. Dan tippte die vier Buchstaben des Passworts ein, startete Firefox und googelte den Bluebell Campground. Der hatte eine Website, die nicht besonders informativ war, wahrscheinlich weil die Besitzer nicht besonders daran interessiert waren, Besucher anzulocken. Das Ganze diente offenkundig nur als Tarnung. Immerhin gab es mehrere Fotos des Geländes, die Dan mit einer Faszination studierte, als hätte er gerade ein altes Familienalbum entdeckt.

Vom Overlook war keine Spur mehr vorhanden, aber Dan erkannte die Landschaft. Einmal, kurz bevor sie vom ersten Schneesturm für den Rest des Winters von der Außenwelt abgeschnitten worden waren, hatte er mit seinen Eltern auf der breiten Veranda des Hotels gestanden (die ohne die Hollywoodschaukeln und Korbstühle noch breiter ausgesehen hatte) und über die lange, ebenmäßig abfallende Rasenfläche geblickt. An deren unterem Ende, wo oft Rehe und Gabelböcke aus dem Wald getreten waren, stand nun ein langes, rustikales Gebäude. Laut Bildunterschrift trug es den Namen Overlook Lodge. Hier konnte man essen, Bingo spielen und am Freitag- und Samstagabend zu Livemusik tanzen. Am Sonntag fanden Gottesdienste statt, abwechselnd geleitet von männlichen und weiblichen Predigern verschiedener Konfessionen, die aus Sidewinder kamen.

Bis der Schnee kam, hat mein Vater den Rasen gemäht und die Hecken, die damals da standen, in Form geschnitten. Er hat gesagt, als Student hätte er einer Dame immer den Kunstgarten beschnitten. Ich habe den Scherz nicht kapiert, aber meine Mama hat darüber gelacht.

»Ein wirklich toller Scherz«, sagte er leise.

Auf den Fotos waren außerdem mehrere Reihen von auf Hochglanz polierten Anschlüssen zu sehen, luxuriöse Armaturen, um die Wohnmobile mit Gas und Elektrizität zu versorgen. Die Sanitärbauten für Männer und Frauen hätten für riesige Raststätten wie Little America und Pedro’s South of the Border ausgereicht. Für kleine Gäste gab es einen Spielplatz. (Dan fragte sich, ob die dort spielenden Kinder wohl manchmal beunruhigende Dinge sahen oder spürten wie damals Danny »Doc« Torrance auf dem Spielplatz vom Overlook.) Ein Softballplatz, eine Shuffleboard-Anlage, zwei Tennisplätze und eine Boccia-Bahn rundeten das Angebot ab.

Allerdings kein Roque-Platz – das nicht. Nicht mehr.

Auf halber Höhe des Hangs – wo sich damals die Heckentiere des Overlooks versammelt hatten – war eine Reihe glänzend weißer Satellitenschüsseln aufgestellt. Und ganz oben, wo das Hotel gestanden hatte, war eine hölzerne Plattform errichtet worden, zu der eine lange Treppe hinaufführte. Diese nun im Besitz des Staates Colorado befindliche Stätte trug den Namen Dach der Welt. Die Besucher des Campingplatzes konnten sie kostenlos besteigen oder die Wanderwege dahinter erkunden. Diese Wege sind nur für erfahrene Wanderer zu empfehlen, besagte die Bildunterschrift, aber das »Dach der Welt« empfängt jedermann. Der Ausblick ist spektakulär!

Daran zweifelte Dan nicht. Vom Speise- und vom Ballsaal des Overlooks aus war der Blick ebenfalls spektakulär gewesen … zumindest bis der sich immer höher auftürmende Schnee die Fenster verhüllt hatte. Im Westen ragten die höchsten Gipfel der Rocky Mountains wie Speere in den Himmel. Richtung Osten sah man bis nach Boulder, ach, sogar bis nach Denver und Arvada, jedenfalls an den seltenen Tagen, an denen die Luftverschmutzung nicht zu schlimm war.

Dass der Staat sich dieses Landstück angeeignet hatte, war nicht weiter erstaunlich. Wer hätte dort wohl wieder etwas erbauen wollen? Der Boden war verdorben, und man brauchte kaum über telepathische Fähigkeiten zu verfügen, um das wahrzunehmen. Aber der Wahre Knoten hatte sich so nah wie möglich an diesem Ort niedergelassen, und Dan vermutete, dass dessen gelegentlich auftauchende Gäste – die normalen – nur selten zu einem zweiten Besuch wiederkamen oder ihren Freunden den Campingplatz weiterempfahlen. Ein unheilvoller Ort muss unheilvolle Kreaturen anziehen, hatte John gesagt. Falls dem so war, dann galt auch umgekehrt: Wer gut war, musste sich davon abgestoßen fühlen.

»Dan?«, rief Dave. »Der Zug fährt ab!«

»Ich brauche noch eine Minute!«

Er schloss die Augen und presste sich eine Handfläche an die Stirn.

(Abra)

Seine Stimme weckte sie sofort.

Kapitel siebzehn
DAS KLEINE AAS

1

Es war noch mindestens eine Stunde bis zur Morgendämmerung, und vor dem Motel Crown war es dunkel, als sich die Tür von Zimmer 24 öffnete und ein Mädchen heraustrat. Dichter Nebel lag über der Landschaft, sodass die Welt kaum vorhanden war. Das Mädchen trug eine schwarze Hose und ein weißes T-Shirt. Ihre Haare hatte sie zu zwei Zöpfen gebunden, und das Gesicht dazwischen sah sehr jung aus. Sie atmete tief ein, und die kühle, feuchte Luft wirkte Wunder gegen die immer noch vorhandenen Kopfschmerzen, tat jedoch nicht viel für Abras todtrauriges Herz. Momo war gestorben.

Aber wenn Onkel Dan recht hatte, war sie nicht richtig tot, nur irgendwo anders. Vielleicht gehörte sie nun zu den Geisterleuten, vielleicht auch nicht. Allerdings hatte Abra gerade keine Zeit, darüber nachzugrübeln. Eventuell würde sie das später tun.

Dan hatte gefragt, ob Billy schlafe. Ja, hatte sie geantwortet, der schlafe tief und fest. Durch die offene Tür könne sie seine Füße unter der Decke hervorragen sehen und sein regelmäßiges Schnarchen hören. Es klinge wie ein vor sich hin tuckerndes Motorboot.

Außerdem hatte Dan gefragt, ob Rose oder jemand von deren Leuten irgendwie versucht habe, in ihre Gedanken einzudringen. Nein. Das hätte sie gemerkt. Ihre Fallen seien aufgestellt, und das müsse Rose ahnen. Dumm sei die schließlich nicht.

Ob ein Telefon in ihrem Zimmer sei, hatte die nächste Frage gelautet. Ja, da stehe eines. Woraufhin Onkel Dan ihr erklärt hatte, was sie tun solle. Es war ziemlich einfach. Angst machte ihr nur, was sie zu dieser schrecklichen Frau in Colorado sagen musste. Dennoch wollte sie es tun. Etwas in ihr hatte das tun wollen, seit sie die Todesschreie des Baseballjungen gehört hatte.

(ist dir klar was du mehrfach sagen musst)

Ja natürlich.

(weil du sie reizen musst das ist wichtig)

(hab verstanden)

Sie wütend machen. Sie zur Weißglut bringen.

Abra stand da und atmete in den Nebel hinein. Die Straße, auf der sie hergekommen waren, war kaum zu sehen, die Bäume dahinter waren vollständig verschwunden. Auch das Rezeptionsgebäude sah man nicht. Manchmal wünschte sie sich, auch so zu sein, ganz weiß im Innern. Aber nur manchmal. Im tiefsten Herzen bedauerte sie nie, was sie war.

Als sie sich bereit fühlte – so bereit, wie es ihr möglich war –, ging sie in ihr Zimmer zurück und schloss die Seitentür, um Mr. Freeman nicht zu stören, falls sie laut werden musste. Sie studierte die Anweisungen auf dem Telefon und drückte die Neun, um eine Verbindung nach draußen zu bekommen. Dann wählte sie die Auskunft und erkundigte sich nach der Nummer der Overlook Lodge auf dem Bluebell Campground in Sidewinder, Colorado. Die Nummer des Büros dort könnte ich dir zwar nennen, hatte Dan gesagt, aber da würde sich bloß der Anrufbeantworter melden.

An dem Ort, wo die Gäste ihre Mahlzeiten einnahmen und Karten spielten, läutete das Telefon lange vor sich hin. Das hatte Dan vorausgesehen und ihr gesagt, sie solle einfach warten. Schließlich sei es dort zwei Stunden früher als an der Ostküste.

Endlich sagte jemand mit brummiger Stimme: »Hallo? Wenn Sie das Büro sprechen wollen, haben Sie die falsche Num…«

»Das Büro interessiert mich nicht«, sagte Abra und hoffte, dass man ihr nicht anhörte, wie schnell und heftig ihr Herz schlug. »Ich will Rose sprechen. Rose the Hat.«

Eine Pause. Dann: »Wer spricht da?«

»Abra Stone. Sie kennen meinen Namen, stimmt’s? Ich bin das Mädchen, nach dem Rose sucht. Sagen Sie ihr, in fünf Minuten rufe ich noch mal an. Wenn sie dann da ist, sprechen wir miteinander. Wenn nicht, kann sie mich am Arsch lecken. Noch mal rufe ich nämlich nicht an.«

Abra legte auf, dann ließ sie den Kopf sinken, verbarg ihr glühendes Gesicht in den Händen und atmete tief und langsam durch.

2

Rose saß am Lenkrad ihres EarthCruiser, die Füße auf dem Geheimfach mit den Flaschen voll Steam, und trank Kaffee, als es an die Tür klopfte. Ein so frühes Klopfen konnte nur weitere Probleme bedeuten.

»Ja«, sagte sie. »Mach einfach die Tür auf.«

Es war Long Paul, der einen kindischen, mit Rennautos bedruckten Pyjama und darüber seinen Bademantel trug. »Das Münztelefon in der Lodge hat geläutet. Zuerst hab ich nicht reagiert, weil ich dachte, da hat sich jemand verwählt, außerdem war ich gerade in der Küche und hab Kaffee gekocht. Aber es hat nicht aufgehört, also hab ich abgehoben. Es war dieses Mädchen. Sie will mit dir sprechen. In fünf Minuten ruft sie noch mal an, hat sie gesagt.«

Hinten setzte Silent Sarey sich im Bett auf und blinzelte durch ihren Pony. Die Bettdecke hatte sie wie einen Schal um die Schultern gezogen.

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