Doctor Sleep - Страница 98


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Das war Rose auch schon in den Sinn gekommen. Dass ein Teenager, den sie noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte, zu denselben Schlüssen kam wie sie, brachte sie irgendwie am allermeisten in Rage.

»Dieser Crow kannte sich mit Shakespeare aus«, sagte das kleine Aas. »Kurz bevor ich ihn erledigt hab, hat er was von ihm zitiert. Ich hab da auch ein bisschen Ahnung, weil es in der Schule mal um Shakespeare ging. Wir haben bloß ein Stück gelesen, Romeo und Julia, aber Ms. Franklin hat uns ein Arbeitsblatt mit allerhand berühmten Sprüchen aus seinen anderen Stücken gegeben. So was wie ›Sein oder nicht sein‹ und ›Das ist der Anfang vom Ende‹. Wusstest du, dass das von Shakespeare ist? Ich nicht. Interessant, oder?«

Rose schwieg.

»Du denkst überhaupt nicht an Shakespeare«, sagte das kleine Aas. »Du denkst daran, wie gern du mich umbringen willst. Um das zu wissen, brauche ich nicht mal deine Gedanken zu lesen.«

»An deiner Stelle würde ich schleunigst davonrennen«, sagte Rose bedächtig. »So schnell und so weit, wie deine Beinchen dich tragen. Es würde dir zwar überhaupt nichts nützen, aber wenigstens würdest du ein wenig länger leben.«

Das kleine Aas ließ sich nicht einwickeln. »Da war noch so ein Spruch. Bei dem ging es darum, in die eigene Falle zu tappen. Ich hab den Eindruck, dass das gerade mit deiner Meute von feigen Typen passiert. Ihr habt euch die falsche Sorte Steam reingezogen, und jetzt sitzt ihr in der Falle.« Eine Pause entstand. »Na, bist du noch da, Rose? Oder bist du schon weggelaufen?«

»Komm nur her zu mir, meine Liebe«, sagte Rose. Sie hatte die Ruhe wiedergewonnen. »Wenn du mich auf der Plattform treffen willst, werde ich dort auf dich warten. Dann können wir gemeinsam die Aussicht genießen, ja? Und sehen, wer die Stärkere ist.«

Rose legte auf, bevor das kleine Aas noch etwas sagen konnte. Sie hatte zwar die Beherrschung verloren, obwohl sie sich geschworen hatte, das nicht zu tun, aber immerhin hatte sie das letzte Wort gehabt.

Oder vielleicht auch nicht, denn ein Wort, das dieses Aas dauernd gesagt hatte, wurde in ihrem Kopf ständig weiter abgespielt, wie bei einem Grammophon, wenn die Nadel in einer schadhaften Rille hängen blieb.

Feige. Feige. Feige.

4

Abra legte den Telefonhörer behutsam wieder auf die Gabel. Dann sah sie ihn an; sie streichelte sogar seine glatte Kunststoffoberfläche, die warm von ihrer Hand und feucht von ihrem Schweiß war. Bevor sie wusste, was mit ihr geschah, brach sie in ein lautes, bellendes Schluchzen aus. Es stürmte durch sie hindurch, verkrampfte ihren Magen und schüttelte ihren Körper. Weinend lief sie ins Badezimmer, kniete sich vor die Toilette und übergab sich.

Als sie wieder herauskam, stand Mr. Freeman in der Verbindungstür. Das Hemd hing ihm aus der Hose, seine grauen Haare standen in wirren Korkenzieherlocken vom Kopf ab. »Was ist denn los? Ist dir von dem Zeug, das er uns gespritzt hat, schlecht geworden?«

»Nein, das war es nicht.«

Er trat zum Fenster und spähte in den dichten Nebel hinaus. »Sind es die? Kommen die etwa hierher?«

Vorübergehend unfähig zu sprechen, konnte sie nur den Kopf schütteln. Das tat sie so heftig, dass ihre Zöpfe flogen. Die kamen nicht hierher, sie selber würde zu ihnen gehen, und das machte ihr furchtbar Angst.

Nicht nur um sich selbst.

5

Rose saß reglos da und zwang sich zu tiefen Atemzügen, um sich zu beruhigen. Als sie sich wieder in der Gewalt hatte, rief sie Long Paul herbei. Nach wenigen Augenblicken steckte der vorsichtig den Kopf durch die Schwingtür, die in die Küche führte. Beim Anblick seines Gesichtsausdrucks musste sie unwillkürlich lächeln. »Keine Angst, du kannst reinkommen. Ich beiße dich schon nicht.«

Als er sich näherte, sah er den verschütteten Kaffee. »Moment, das wische ich gleich auf«, sagte er.

»Vergiss es. Wer ist der beste Finder, den wir noch haben?«

»Du, Rose.« Ohne zu zögern.

Rose hatte nicht die Absicht, sich dem kleinen Aas mental zu nähern, nicht einmal in der äußersten Not. »Außer mir.«

»Tja … da Grampa Flick hinüber ist … und Barry auch …« Er dachte nach. »Sue hat gewisse Fähigkeiten, Greedy G ebenfalls. Aber ich glaube, Token Charlie ist noch besser geeignet.«

»Ist der krank?«

»Gestern war er es noch nicht.«

»Schick ihn zu mir. Während ich auf ihn warte, werde ich den Kaffee aufwischen. Denn – das ist wichtig, Paulie – wer was verbockt, sollte es selber wieder in Ordnung bringen.«

Nachdem er gegangen war, blieb Rose noch eine Weile sitzen, die Hände unter dem Kinn verschränkt. Sie konnte wieder klar denken, und damit verbunden war auch die Fähigkeit zu planen. Wie’s aussah, würden die Wahren heute doch keinen Steam nehmen. Das konnte bis Montagmorgen warten.

Nach einer Weile ging sie in die Küche, um sich ein paar Papierhandtücher zu besorgen. Dann wischte sie die Schweinerei auf, die sie gemacht hatte.

6

»Dan!« Diesmal war es John. »Wir müssen los!«

»Komme gleich«, sagte er. »Ich will mir bloß noch das Gesicht waschen.«

Während er durch den Flur ging, lauschte er Abra und nickte leicht mit dem Kopf, als wäre sie tatsächlich da.

(Mr. Freeman will wissen wieso ich geweint hab und wieso ich gekotzt hab was soll ich ihm)

(vorläufig bloß dass er mir seinen Pick-up leihen soll wenn wir bei euch sind)

(weil wir nach Westen fahren werden)

(… tja …)

Es war kompliziert, aber sie begriff. Das Ganze musste nicht in Worte gefasst werden.

Neben dem Waschbecken stand ein Regal mit mehreren Zahnbürsten, die meisten noch eingepackt. Auf dem Griff der kleinsten – nicht eingepackten – stand in bunten Lettern ABRA. An einer Wand hing ein kleines Schild mit der Aufschrift EIN LEBEN OHNE LIEBE IST WIE EIN BAUM OHNE FRÜCHTE. Er betrachtete es einige Sekunden und überlegte, ob es im AA-Programm wohl etwas Ähnliches gab. Das Einzige, was ihm einfiel, war Wenn du heute niemand lieben kannst, versuch wenigstens, niemand zu verletzen. Aber das ließ sich eigentlich nicht vergleichen.

Er drehte das kalte Wasser auf und klatschte sich mit beiden Händen mehrere Ladungen ins Gesicht. Dann drehte er den Hahn zu, griff nach einem Handtuch und hob den Kopf. Diesmal war keine Lucy mit ihm im Rahmen; da war nur Dan Torrance, der Sohn von Jack und Wendy, der immer gedacht hatte, er wäre ein Einzelkind.

Sein Gesicht war mit Fliegen bedeckt.

Teil vier
DAS DACH DER WELT

Kapitel achtzehn
NACH WESTEN

1

An die Fahrt von Boston zum Motel Crown erinnerte Dan sich später nicht mehr besonders gut, weil die vier Insassen von John Daltons SUV nur sehr wenig sprachen. Ihr Schweigen war nicht peinlich oder feindselig, sondern erschöpft – die Stille von Menschen, die über vieles nachzudenken, aber nicht viel zu besprechen hatten. Am besten erinnerte er sich daran, was geschehen war, als sie ihr Ziel erreicht hatten.

Dan wusste, dass Abra sie erwartete, denn auf der Fahrt war er oft in Kontakt mit ihr gewesen. Die beiden hatten so kommuniziert, wie sie es sich angewöhnt hatten, halb in Worten und halb in Bildern. Als Johns Wagen in den Parkplatz einbog, saß sie auf der hinteren Stoßstange von Billys altem Pick-up. Sobald sie Johns Wagen kommen sah, sprang sie winkend auf. In diesem Augenblick riss die dünner gewordene Wolkendecke auf, und Abra stand im Sonnenlicht. Es war wie ein kleiner Gruß des Himmels.

Lucy stieß einen Ruf aus, der fast ein Schrei war. Noch bevor John den Wagen ganz zum Halten gebracht hatte, hatte sie ihren Gurt gelöst und die Tür geöffnet. Wenige Sekunden später schlang sie die Arme um ihre Tochter und küsste sie auf den Scheitel – mehr war nicht möglich, weil Abras Gesicht zwischen ihren Brüsten steckte. Nun beschien die Sonne Mutter und Kind.

Mother and Child Reunion, dachte Dan. Das Lächeln, das dieser Gedanke auslöste, fühlte sich auf seinem Gesicht merkwürdig an. Seit er das letzte Mal gelächelt hatte, war viel Zeit vergangen.

2

Lucy und David wollten Abra nach New Hampshire zurückbringen. Dagegen hatte Dan nichts einzuwenden, aber da sie nun alle zusammen waren, mussten sie erst einmal Kriegsrat abhalten. An der Rezeption saß wieder der Fettkloß mit dem Pferdeschwanz; statt Porno genehmigte er sich heute einen MMA-Kampf. Er war gern bereit, ihnen Zimmer 24 weiterzuvermieten; ob sie die Nacht dort verbrachten oder nicht, war ihm egal. Billy fuhr in die Stadt, um ein paar Pizzas zu besorgen. Anschließend informierten Dan und Abra die anderen abwechselnd über alles, was bisher geschehen war, und alles, was noch geschehen würde. Wenn es so lief, wie sie hofften, jedenfalls.

»Nein, das ist viel zu gefährlich«, sagte Lucy sofort. »Für euch beide.«

John verzog den Mund zu einem trüben Lächeln. »Am gefährlichsten wäre es, diese … diese Kreaturen zu ignorieren. Rose sagt, wenn Abra nicht zu ihr kommt, dann kommt sie zu Abra.«

»Die ist sozusagen auf Abra fixiert«, sagte Billy und wählte ein Stück Pizza mit Peperoni und Champignons. »Bei Irren kommt so was häufig vor. Da haben sie neulich was im Fernsehen darüber gebracht.«

Lucy sah ihre Tochter vorwurfsvoll an. »Du hast sie aufgestachelt. Das war gefährlich, aber wenn sie sich beruhigt hat, wird sie vielleicht …«

Obwohl niemand sie unterbrach, verstummte sie. Offenbar war ihr klar geworden, wie unwahrscheinlich diese Erwartung war.

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